Jubelt Belgien auch im Viertelfinale gegen Brasilien? Foto: dpa

Warum die Roten Teufel bei der WM Fußball-Geschichte schreiben können: Aus einem Kader voller Könner hat Trainer Roberto Martínez einen verschworenen Haufen geformt.

Stuttgart - Schon das erste Spiel war voll überzeugend. Nur zu gut wussten die Belgier um das wichtigste Gesetz im heutigen Fußball: Geld schießt Tore. Und wer dann gegen die Finanzmacht Panama 3:0 gewinnt, muss ein Titelanwärter sein.

Jenseits solcher Kalauer hat das Elf-Millionen-Land tatsächlich einen Kader voller Könner. Eden Hazard, der schlangengleiche Dribbelkönig. Romelu Lukaku, der schwarze Schrank als Mittelstürmer mit bisher vier WM-Toren. Kevin de Bruyne, der Mittelfeldmotor zwischen Schlamperei und Genialität. Thibaut Courtois, Chelseas Riese im Tor. Oder Abwehrchef Vincent Kompany, lange beim HSV und trotzdem gut.

Belgien, als Land jenseits des Fußballs gern als gesichtsloses Königreich Absurdistan verspottet, war schon oft Geheimfavorit. Doch kein Trainer konnte aus den Einzelgrößen ein Team formen. Und so kennt man die Gesichter alle auch weinend und deprimiert vom Platz schleichen – mal gegen Argentinien (Viertelfinale WM 2014), gegen Wales (Viertelfinale EM 2016) und fast am Montag gegen Japan. Auch jetzt wird man aus dem Team nicht schlau und denkt bei allen tollen Aktionen ihre Trauer schon mit.

„Die Kinder von damals haben sich zu großen Stars entwickelt“, sagt indes ihr Trainer Roberto Martínez, 44, ein Katalane, der an Louis de Funès erinnert und zuvor sieben Jahre in der englischen Premier League arbeitete. Richtig überrascht habe ihn bei den belgischen Kickern „ein Stolz wie sonst nur in Südamerika, sich wieder zu treffen und sein Land repräsentieren zu dürfen. Mich hat immer fasziniert, wie ein kleines Land eine solche Menge von hochtalentierten Fußballern hervorbringen kann, die offen im Geist sind. Belgier wollen zuhören. Respekt und Kompromiss sind Teil ihrer Kultur.“ Der Spielort Kasan gilt als Elefantengrab: Hier soll nach Messis Argentinien und dem Scheinriesen Deutschland auch Rekordweltmeister Brasilien enden.

Belgische Duftmarken

Das kleine Belgien hat im Fußball einige Duftmarken hinterlassen. Ihre Trainer haben in den 1970er Jahren die Abseitsfalle erfunden. Der erste Millionentransfer in die Fußball-Bundesliga war ein Belgier: Stürmer Roger van Gool, der 1976 vom FC Brügge nach Köln wechselte und mit dem FC gleich Pokalsieger wurde und danach Meister. Jean-Marc Bosman hat 1995 mit seiner Klage vor dem Europäischen Gerichtshof das Welt-Transfersystem aus den Angeln gehoben (ohne selbst zu profitieren: Bosman lebt heute verarmt als trockener Alkoholiker nahe Lüttich). Der RSC Anderlecht hat 34 Landesmeistertitel gewonnen – da wirkt der Münchner FC Hollywood ganz bescheiden mit seinen paarundzwanzig Titeln. EM- oder WM-Titel fehlen den Belgiern, es gab nur den, naja, Olympiasieg 1920 und drei Europapokalgewinne in den 1980ern (Anderlecht, KV Mechelen). Fußball-Amtssprache ist verblüffenderweise eine Fremdsprache: Auf den Trikots steht englisch Belgium, das Team heißt offiziell Red Devils, der Verband hat die Netzadresse belgianfootball.be. Die Fans feuern die Elf mit „Belgium, Belgium“ an. Vorstellbar, dass der DFB German Football Association hieße, die Fans Germany riefen? Oder die Schweizer „Switzer. . ., Switzer. . ., Switzerland“? Belgiens Spieler twittern auf englisch, die Kabinensprache ist seit jeher englisch (passend derzeit, weil Trainer Martínez weder niederländisch noch französisch kann).

Das alles passt zu diesem unterschätzten EU-Kernland: integrativ, Kulturen zusammenbringend, europäisch vorbildlich. Der Brüsseler Schriftsteller Geert van Istendael sagte einmal: „Europa muss belgisch werden, oder es wird untergehen.“ Er meint das ständige Ringen und Zusammenraufen von Flamen und Wallonen, nervig und aufreibend oft, aber prägend. „Wir kennen Europas Probleme seit langem“, so van Istendael, „Belgien ist wie Europa im Kleinen, wie eine Märklin-Eisenbahn.“ Neun der 23 WM-Spieler haben außereuropäische Wurzeln – von Martinique über den Kongo bis Marokko. Das verwundert nicht in einem Land, in dessen Hauptstadt Brüssel der häufigste Vorname Neugeborener derzeit Mohammed ist.

Belgiens Liga: Schauplatz für Talente

Die belgische Liga, benannt nach einer Biermarke, ist eine der ältesten der Welt (seit 1895), aber ein Zwerg an Wirtschaftskraft und mit mehrheitlich weniger als 10 000 Zuschauern im Schnitt. Die Liga gilt als Schauplatz für Talente, nach denen Europas Großclubs ihre Krakenarme ausstrecken. Nur einer im belgischen Kader spielt daheim, elf allein bei den sechs großen Clubs in England. Gerade einmal zehn WM-Spieler anderer Länder verdienen ihr Geld in Belgien; fast alle sind längst ausgeschieden. Nur Mexikos Torwart Guillermo Ochoa (Standard Lüttich) war Stammkraft, Moussa Wague (Eupen) traf für den Senegal sogar ins Tor. Die AS Eupen ist in Belgiens erster Liga sogar so was wie exterritoriales Gebiet: Der Club gehört dem Emir von Katar, der hier afrikanische Talente an Europas Ligen heranführen lässt und junge Kataris (oder Afrikaner mit plötzlichen katarischen Urgroßmüttern) auf die Heimat-WM 2022 vorbereitet.

Und doch ist die Liga so wichtig, dass Martínez und sein Co-Trainer Thierry Henry, Weltmeister mit Frankreich 1998, sich über Monate immer wieder in den Stadien blicken ließen, bei Spielen wie Beveren gegen Lokeren oder Mouscron gegen Zulte-Waregem. Sie wollten die Kultur aufsaugen und verstehen, haben sie gesagt. Dieses Heimatinteresse rechnen ihnen die Belgier hoch an.

Plötzlich ist Schwarz-Gelb-Rot, der scheinbare Underdog, neuer Fanliebling. Es gibt Apps und Anleitungen, wie man die deutsche Farbenreihe am einfachsten auf belgisch umbastelt. Im Aachener Grenzland zerschneiden Kinder ihre Fahnen und kleben die Stücke neu zusammen. Man lacht man mit den Holländern, die sagen: War doch besser, erst gar nicht hinzufahren als so sich zu blamieren wie ihr Duitsen. Dann jetzt vereint Belgium adoptieren.