Aus 14 Meter Höhe ist die Bühne ein undurchdringliches Gewirr aus Technik Foto: Stage Entertainment / Jan Potente

Jeder Schlag muss sitzen: „Rocky“ ist technisch eines der anspruchsvollsten Musicals, die bisher in Stuttgart gelaufen sind. Die meisten Abläufe sind für die Zuschauer im Saal unsichtbar. Ein Abend hinter den Kulissen.

Stuttgart - Die große Show beginnt heimlich, still und leise. Noch sind es zwei Stunden bis zum Vorstellungsbeginn. Von den 1400 Besuchern, die an diesem Abend das Stage-Palladium-Theater in Möhringen bevölkern werden, ist weit und breit noch nichts zu sehen. Doch damit Titelheld Rocky Balboa die Fäuste im Box-Spektakel schwingen kann, laufen bereits die Vorbereitungen. Die komplette Technik wird überprüft. „Das ist unser täglicher Tüv. Da wird jede Lampe noch mal an- und ausgemacht“, sagt Theatersprecher Jürgen Langerfeld.

Das ist nicht ganz unwesentlich. Denn die Geschichte vom kleinen Boxer, der unversehens zum größten Kampf seines Lebens kommt, verlangt Technik und Mensch alles ab. 65 Leute sind für eine Vorstellung nötig – von den 22 Darstellern über die 12 Musiker, die Techniker und Maskenbildner bis hin zu den zwei Feuerwehrleuten, die jeden Abend im Saal und hinter der Bühne über das Geschehen wachen. Hinter den Kulissen lagern mehr als 2000 Kleidungsstücke, während der Show sind 200 Kostümwechsel vonnöten, die in Sekundenschnelle klappen müssen. Das Bühnenbild wiegt 150 Tonnen. Während der Vorstellung muss Regen vom Himmel prasseln und eine vermeintliche Schlittschuhbahn funktionieren. Videowände, fahrbare Kulissen und Lichteffekte spielen eine große Rolle im Stück.

Blaue Augen im Training für den finalen Boxkampf

In der Garderobe treffen die Darsteller ein. Dem einen oder anderen müssen erst einmal die Tätowierungen überschminkt werden. Auf der Bühne herrscht ebenfalls Betrieb. Die Hauptakteure üben den finalen Schlusskampf. 200 Schläge und die dazugehörigen Bewegungsabläufe müssen sitzen. Echt soll es aussehen, aber nicht weh tun – auch wenn es schon das eine oder andere blaue Auge gegeben hat. „Echte Boxer hätten da Probleme. Die schlagen richtig“, sagt Mario Seidel und schmunzelt. Der Leiter des Stage Managements nimmt an diesem Abend die Rolle des Floaters ein – er kümmert sich hinter der Bühne um die Abläufe. Wie alle dort trägt er Schwarz, um für das Publikum unsichtbar zu sein.

Überhaupt – das meiste, was für die Show notwendig ist, sehen die Zuschauer nicht. Etwa den größten Teil der Bühne. Nur 100 der 1000 Quadratmeter Fläche werden bespielt. Den Rest nutzen Seidel und seine Leute. Durch Vorhänge sind sie verborgen, oftmals trennt sie nur ein Schritt vom Rampenlicht vorn. Sie agieren im Dunkeln, manche tragen deshalb Stirnlampen. Kulissen müssen gewechselt, Darsteller blitzschnell umgezogen werden. Markierungen auf dem Boden zeigen die Laufwege. In allen Ecken stehen oder hängen die gewaltigen Kulissen. Der Turm über dem Theater ist 28 Meter hoch – und voller Technik.

Kleiderhäufchen direkt hinter dem Vorhang

Noch eine gute Stunde bis zum Vorstellungsbeginn. „Zeit fürs Sign-in“, tönt es aus den Lautsprechern, die überall im Haus hängen – selbst auf den Toiletten. „Wir überprüfen, ob alle Schäfchen da sind“, sagt Langerfeld. Wenn ein Darsteller fehlt, weil er krank ist oder im Stau steht, wird spätestens jetzt die Zweitbesetzung aktiviert. Während auf den Seitenbühnen Umkleidekabinen mit den notwendigen Kostümen ausgestattet und für die schnelleren Wechsel Kleiderhäufchen direkt hinter den Vorhängen auf dem Boden platziert werden, schwärmt Seidel von „Rocky“: Seit 22 Jahren sei er dabei. Die Produktionen ganz am Anfang, etwa „Miss Saigon“, seien „Mörderteile“ gewesen. Ganz ähnlich empfinde er nun das Boxerstück: „Das ist sehr aufwendig, es gibt bombastische Kostüme und die Zuschauer sind ganz nah dran.“

Der Chef im Ring heißt an diesem Abend aber weder Rocky Balboa noch Mario Seidel. Die Kommandos gibt Janosch Bäuerle. Er nimmt die Rolle des Callers ein. Während die ersten Besucher sich im Foyer den Sekt schmecken lassen, setzt sich Bäuerle in eine abgedunkelte Kabine am hinteren Ende des Theaters. Durch eine Glasscheibe und über Monitore hat er alles im Blick, was sich auf und hinter der Bühne tut. Vor ihm liegt ein dicker Wälzer – das sogenannte Callbuch. Er hat es selbst geschrieben. Jeder Licht- und Toneffekt, jede Kulissenbewegung ist darin vermerkt. Ist die entsprechende Stelle erreicht, gibt Bäuerle den Einsatz – um die 1000 Kommandos sind es bei „Rocky“. „Da redet man sich den Mund fusselig“, sagt er und lacht. Noch fünf Minuten. Jeder Darsteller meldet sich persönlich bei Bäuerle an, er hakt die Namen auf einer Liste ab. Auf den Monitoren ist zu sehen, wie der Dirigent die Schultern lockert. Bäuerle wünscht allen „eine schöne Show“. Der Vorhang hebt sich.

Frauen und Männer ganz in Schwarz

Während im Foyer neue Getränke angeliefert werden und sich auf der Bühne Rocky Balboa durchs Leben schlägt, ist es hinter den dunklen Vorhängen, nur wenige Meter vom Publikum entfernt, erstaunlich laut. Die Männer und Frauen in Schwarz bauen Kulissen um, Darsteller flachsen, Seidel schiebt Boxsäcke hin und her. Nichts davon ist im Publikum zu hören. In einer Szene rennen zig Rockys auf und hinter der Bühne durcheinander. Ein Rädchen greift ins andere, die Abläufe klappen.

Die Show ist durchaus sportlich – nicht nur wegen der Boxszenen. Während der Vorstellung gilt für Techniker wie Darsteller Aufzug-Verbot – schließlich könnte man stecken bleiben. Im zweiten Akt führt das dazu, dass verschiedene Akteure zu Fuß drei Stockwerke nach oben rennen – um aus 14 Meter Höhe auf die Bühne zu schweben. Dort oben hängt auch der Boxring, der ganz am Ende ins Publikum fährt. Eng ist es und luftig – direkt unter den Stegen sieht man die Köpfe der Zuschauer in den ersten Reihen.

Verwirrte Besucher auf der Bühne

Noch eine halbe Stunde bis zum Ende. Der Boxring schwebt nach unten und bewegt sich nach vorn. „Die Schublade wird ausgefahren“, kommentiert Seidel und strahlt. Besucher werden von ihren Sitzen auf eine Tribüne auf der Bühne geführt. „Jetzt sind sie völlig konfus“, sagt Seidel direkt daneben und grinst. Verwirrte Blicke der Betroffenen gehen nach rechts und links. Schnell werden sie Teil der Show.

Als der finale Kampf vorüber und der Vorhang gefallen ist, kommen die Darsteller nach hinten und bilden ein Spalier. Rocky-Darsteller Nikolas Heiber tänzelt hindurch und klatscht alle ab – ein kleines Ritual. Der Abend ist gut gelaufen, alle sind noch völlig aufgedreht. Ein paar Minuten später macht Caller Bäuerle die letzte Durchsage: „Schöne Show, kommt gut nach Hause.“ Die Gänge leeren sich. Bis zum nächsten Tag. Dann muss es wieder Schlag auf Schlag gehen.

Interessierte können Backstage-Führungen für „Rocky“ buchen. Dabei geht es zwar nicht während der Vorstellung, aber zumindest davor hinter die Bühne. Die Führungen kosten 19,50 Euro und dauern eine Stunde. Buchbar sind sie unter Telefon 0 18 05 / 44 44 oder www.stage-entertainment.de.