Die Fallzahlen im Schwerbehindertenrecht sind am Stuttgarter Sozialgericht angestiegen. Foto: Horst Rudel

Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung, die in Heimen leben, sind im Nachteil gegenüber ihren Altersgenossen ohne Behinderungen. Die Diakonie Stetten zog deshalb vors Sozialgericht.

Stuttgart - Mehr als 300 Kinder und Jugendliche mit körperlichen, geistigen oder Einschränkungen der Sinne leben in Wohngruppen in Stuttgart. Vielen Familien ist es wegen der Schwere oder der Art der Behinderung ihrer Kinder gar nicht möglich, sie daheim zu betreuen. In anderen Fällen verhindern Treppen oder fehlender Platz das Zusammenleben. Drei Häuser in Stuttgart bieten daher eine stationäre Betreuung an.

Träger der drei Einrichtungen sind das anthroposophische Raphaelhaus, die Nikolauspflege und die Diakonie Stetten. Alle drei haben mit hohen Kosten zu kämpfen. „Die personelle Ausstattung sowie die Finanzierung der stationären Einrichtungen ist für diesen Personenkreis seit Jahren unzureichend“, sagt Rechtsanwalt Jörg Lang.

Kein Ersatz für höheren Aufwand

Lang vertritt die Diakonie Stetten, die 20 Wohnheimplätze in Bad Cannstatt anbietet, und ist vors Stuttgarter Sozialgericht gezogen. Ziel der Klage war es, die Stadt – sie ist die Kostenträgerin – rückwirkend zu einem höheren Zuschuss zu verpflichten. Denn die Zahl der Betreuer und der Fachkräfte ist nach Ansicht des Klägers seit langem verbesserungswürdig. „Die Tagessätze im Kinder- und Jugendbereich liegen der Höhe nach auf dem Niveau von Wohngruppen für erwachsene behinderte Menschen“, sagt Rechtsanwalt Lang. „Es ist aber offenkundig, dass für Kinder und Jugendliche, insbesondere in der Adoleszenz, erheblich umfangreichere Betreuungsleistungen erbracht werden müssen.“ Das Behindertenteilhabegesetz habe bisher keinen Eingang in die Vergütungsvereinbarungen zwischen Heimen und Kostenträgern gefunden. In stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe für junge Menschen lägen daher häufig schlechtere personelle Förderbedingungen vor als für nicht behinderte junge Leute in Jugendhilfeeinrichtungen.

Das Sozialgericht hat die Klage der Diakonie in mündlicher Verhandlung zurückgewiesen. „Der Richter meinte, dass die Parteien erst noch einmal weiterverhandeln sollten“, so Lang. Das schriftliche Urteil lag vergangene Woche noch nicht vor, die Entscheidung der Diakonie, wie es weitergehen soll, hingegen schon: „Meine Mandantschaft wird Berufung einlegen.“

Die Nikolauspflege, das Kompetenzzentrum für Blindheit, Sehbehinderung und Mehrfachbehinderung am Kräherwald, kämpft ebenfalls mit knappen Zuschüssen. „Die Finanzierung der personellen Ausstattung ist nicht auskömmlich“, sagt Pressesprecherin Stefanie Krug. Junge Menschen mit Sinneseinschränkungen könne man nur in kleinen Lerngruppen bilden, weil Enge und Lärm sie irritierten oder gar störten. In einigen Fällen sei sogar eine 1:1-Betreuung nötig. „Qualitativ hochwertige Angebote zur Teilhabe im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention sind nur über Spendeneinnahmen möglich“, sagt Stefanie Krug.

Stadt stellt Verbesserungen in Aussicht

Das Gerichtsurteil – selbst wenn es im Sinne der Diakonie Stetten ausgefallen wäre – berührt die Leistungsvereinbarungen zwischen der Stadt und anderen Trägern der Behindertenhilfe nicht. Denn jeder Träger muss seine Leistungsvereinbarung selbst aushandeln. Für die Diakonie Stetten gilt bis auf weiteres die alte, fortgeschriebene Vereinbarung weiter.

„Wir sind froh, dass die Klage zurückgewiesen wurde. Die Vergangenheit ist für uns damit geklärt“, sagt Sozialamtsleiter Stefan Spatz. Die Alt-Vereinbarung gelte noch bis zum 30. April 2018, „für die Zukunft ist die Stadt Stuttgart bereit, für einen besonderen Personenkreis wie Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ein spezielles Leistungsangebot mit der Diakonie Stetten auszuhandeln, wie wir das mit anderen Trägern auch gemacht haben“, versichert er.

Der Kommunalverband Jugend und Soziales, der die Stadt vor Gericht begleitet hatte, möchte sich nicht äußern: „Uns liegt noch keine schriftliche Urteilsbegründung vor. Wir bitten um Verständnis, dass eine Stellungnahme erst nach der Auswertung der Urteilsbegründung möglich ist.“

Der Streit um eine auskömmliche Finanzierung schwelt schon lange. Bereits 2015 hatten Eltern eine entsprechende Petition beim Landtag in Baden-Württemberg eingereicht. Das Anliegen der Eltern wurde vom Petitionsausschuss als grundsätzlich berechtigt anerkannt. Der Ausschuss empfahl, die tatsächlich erforderliche Personalausstattung in den einzelnen Leistungsvereinbarungen zu bestimmen und gegebenenfalls eine Neuverhandlung zu beantragen.

Verschiedene Träger haben dies landesweit versucht, „bisher ohne Ergebnis“, so Rechtsanwalt Lang. Seine Interpretation: „Die Kommunen versuchen, die mit der Reform verbunden Mehrkosten so lange als möglich hinauszuschieben.“