Der Thermomix: Sieht so die Projektionsfläche eines gelingenden Lebens aus, wie Soziologen sagen? Foto:Vorwerk Foto:  

Alle 25 Sekunden wird ein Thermomix für 1299 Euro verkauft. Warum ist die Küchenmaschine so erfolgreich? Zu Besuch bei einer Thermomix-Party.

Stuttgart - Wie der Thermomix Gudrun Edelmanns Leben verändert hat, lässt sich am besten mit zwei Gerichten beschreiben. Tomate-Mozzarella und Risotto. Tomate-Mozzarella war so eine Art Hauptnahrungsmittel in Gudrun Edelmanns Leben ohne Thermomix, als sie weder Zeit noch so recht Lust hatte zu kochen. Seit die Maschine vor Kurzem in ihre Gerlinger Single-Küche zog, hat sich ihr Speiseplan hingegen fast schon explosionsartig erweitert. Edelmann – blonde lange Haare, Fellweste, Unterarmtattoo – hat Risotto gemacht, Suppen und Rohkostsalat ausprobiert. Demnächst will sie sogar selbst Hustensaft für den Enkel kochen. Und auch für ihren Herd hat die Mutter zweier erwachsener Töchter, die beide ebenfalls einen Thermomix besitzen, eine Verwendung gefunden: Auf dessen Kochfeld liegt jetzt ein Holzbrett, darauf steht der Thermomix. Wenn er gart, schaltet sie die Dunstabzugshaube ein.

Gudrun Edelmann ist eine Kundin, wie man sie sich in der Marketingabteilung von Vorwerk, dem Wuppertaler Hersteller der Küchenmaschine, nicht besser hätte ausdenken können. Eine, deren Leben in kulinarischer Hinsicht ohne das Gerät ärmer war. Vor allem aber eine, die ihre Begeisterung über den Thermi, wie ihn die Fans nennen, teilen will und Bekannte aus ihrem Faschingsclub zum sogenannten Erlebniskochen eingeladen hat. Es findet in der geräumigen Küche von Gudrun Edelmanns Tochter in Neckarweihingen statt.

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Durch die dreistündige Thermomix-Party führt in weißer Bluse Kornelia Brändle-Jäger. Sie ist eine von rund 42 000 Thermomix-Repräsentantinnen weltweit. Brändle-Jäger war bis vor fünf Jahren Hausfrau in Ilsfeld bei Heilbronn und überzeugte Kundin. Dann entdeckte sie die Arbeit auf Provisionsbasis als „Möglichkeit, Beruf und Familie zu verbinden“, wie sie sagt. Seither packt sie ein- bis zweimal pro Woche in einer anderen Küche ihr Gerät, geschnippeltes Gemüse, Getreide und Gewürze in kleinen Tupperdöschen aus.

Lackweiß glänzender Küchenkoloss

Heute sitzen mit ihr sechs Frauen zwischen jung und mittelalt, zwischen alleinstehend und zwei Kindern an dem großen weißen Esstisch. Routiniert und ernst gibt Brändle-Jäger eine kurze theoretische Einführung in den Thermi-Kosmos, nennt Fakten („Er hat zwölf Funktionen“), Vorteile („Ihr bestimmt, was in euer Essen reinkommt“) und Grundfertigkeiten für die Bedienung („Tippen und drehen“). Es ist ein bisschen wie in einer Mädchenklasse. Die Teilnehmerinnen hören brav und aufmerksam, aber auch ohne große Gefühlsregungen zu. Immer wieder dürfen sie Kreuzchen auf einem Fragebogen machen: Was ihnen beim Kochen wichtig ist, will Brändle-Jäger zum Beispiel wissen. Aber auch ihre persönlichen Daten und ob sie das 1299 Euro teure Küchengerät mit Kochfunktion lieber in Raten oder komplett bezahlen würden – falls sie es denn überhaupt kaufen.

Ziel des Abends ist es, dass die Frauen „mich und den Thermomix gern wieder sehen wollen“, wie die Repräsentantin ehrlich sagt. Und deshalb dürfen die potenziellen Kundinnen einen Großteil der Zeit selbst an dem lackweiß glänzenden Küchenkoloss hantieren, auf das Display tippen und am Stufenrad drehen – wobei der Thermomix das meiste selbst macht. Tippen und drehen: Baguetteteig geknetet. Tippen und drehen: Rohkostsalat geschnippelt. Tippen und drehen: mediterraner Brotaufstrich gemixt. Schritt für Schritt leitet die Maschine über ein Display durch die Rezepte. Guided Cooking (geführtes Kochen) mit „Gelinggarantie“ nennt Vorwerk das. Am Ende erklärt das Gerät sogar noch, dass man das Gericht in „eine Schüssel füllen und servieren“ könne. Die Botschaft ist klar: Während der Thermi wie von allein, schnell und gesund kocht, hast du Zeit für dich. Oder wie Brändle-Jäger es formuliert: „Jetzt beginnt für uns die Freizeit, die Leichtigkeit!“

Ein Werbekonzept, das sehr, sehr viele Menschen überzeugt. Alle 25 Sekunden wird laut Vorwerk weltweit ein Gerät verkauft, 1,4 Millionen Exemplare waren es zuletzt. Allein 2015 stieg der Umsatz um 50 Prozent auf knapp 1,4 Milliarden Euro.

Mitunter motorsägenhafte Lautstärke

Und die Fans stehen nicht nur in ihrem vom lauten Brummen erfüllten Kämmerlein an dieser Maschine, die das Ende jedes Arbeitsschritts mit einer etwas selbstherrlichen Fanfare verkündet. Auch online hat sich eine rührige Gemeinde darum geschart, die den Thermi wahlweise wie einen Helden oder wie einen guten Freund feiert: Es gibt ein Fan-Portal mit 64 000 Thermi-Rezepten, einen Thermi-Song und Thermi-Tattoos, Thermi-Blogger und sogar Thermi-Youtube-Stars wie die Thermifee oder die Thermimaus, Frauen mit blonden Strähnchen im Kurzhaarschnitt, die auf der Videoplattform Gerichte vorkochen, damit Millionen Klicks sammeln und eigene Rezeptbüchlein herausgeben. Apropos: Auch Thermi-Magazine drängen mit Thermi-Häckselstufe zehn auf den Zeitschriftenmarkt.

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Thermi-Kritiker zu finden ist gar nicht so einfach. Auf Ebay verkaufen einige ihren TM5, wie das neueste Modell heißt, weil das Ding nur unbenutzt in der Ecke stand. Auch monieren Verbraucherschützer den hohen Preis, die mitunter motorsägenhafte Lautstärke, die ungenaue Waage und den Kaufdruck, unter dem sich manche bei den Verkaufspartys fühlen könnten. Aber die meisten Verbraucher, die den Thermomix im Gespräch oder in Internetforen ablehnen, formulieren eher ein Gefühl, fast schon eine Furcht: Dass da nämlich in diesem Edelstahltopf auch ein Stück Kochkultur zerhäckselt, jede Kreativität in der Küche verdampfen würde. Der Thermomix als eine Art Therminator: Ein Ding aus der Zukunft, das den Menschen hilft und ihnen ans Herz wachsen kann, aber gerade deshalb auch unheimlich ist. So als könnte es – wenn man es zu nahe an sich ran lässt – außer Kontrolle geraten und die Herrschaft übernehmen.

Klar, dass so ein Phänomen auch kluge Erklärer auf den Plan ruft: Der Thermomix löse gleich „drei große Wertantinomien“, also Widersprüche, „die die Lebensführung in der modernen Gesellschaft bestimmen“, sagte etwa der Frankfurter Soziologe Tilman Allert kürzlich dem Magazin „Wirtschaftswoche“: zwischen Profi- und Laienkoch, zwischen Hausfrauen- und Berufstätigkeit und zwischen gesunder und gleichzeitig kulinarisch raffinierter Küche. Insofern sei das Gerät auch Statussymbol eines „gelingenden, alles im Griff habenden Lebens“ und stehe damit, weil es dazu auch noch Zeit spare, quasi für eine pietistische Lebensweise. Ja, Allert hat sogar das Gefühl, in dieser 1961 eingeführten Universalküchenmaschine „liegt ein Stück deutsche Kulturgeschichte vor uns“.

Typische Thermi-Stimmung

Auch nicht ganz frei von Überhöhung argumentiert Gunther Hirschfelder. Für den Kulturanthropologen aus Regensburg steht der Erfolg des Thermomix für eine Zeit, in der die Küche zum Ausdruck des Lebensstils geworden ist. „Das ist eine moderne Heldengeschichte. Es heißt nicht mehr ,Ich und mein Pferd‘, sondern ,Ich und mein Thermomix‘.“

Auf Gudrun Edelmanns Party sind es weitaus bodenständigere Argumente, die für ein Leben mit dem Küchengerät sprechen. Zum Beispiel der „fluffige Teig“ zwischen den Fingern der Debütantinnen, der Brokkolisalat in nur fünf Sekunden, auch dass der Thermi „so sauber schafft“. Und das geleitete Kochen. „Des isch schon cool. Das könnte sogar mein Mann“, sagt eine Teilnehmerin, und alle lachen. Und so ist im Lauf des Abends diese vielleicht typische Thermi-Stimmung entstanden, wie sie der Trendforscher Peter Wippermann beschreibt und die davon lebt, dass man Teil der Gemeinschaft ist und mitreden kann. Eine „typische Graswurzelbewegung“ sei der Thermi-Hype, sagt Wippermann.

Dazu kommt für ihn: „Der Thermomix ist eines der erfolgreichsten Produkte des digitalen Wandels.“ Im Gegensatz zu anderen Traditionsfirmen habe man in Wuppertal nicht geschlafen und das Produkt in die Zukunft entwickelt. Und tatsächlich setzte der ganz große Erfolg erst ein, als 2014 der digitalisierte TM5 auf den Markt kam.

Während die Maschine Pute, Gemüse, Reis und Kartoffeln gleichzeitig zubereitet, geht es beim schwäbischen Erlebniskochen zurück an den Tisch, wo Kornelia Brändle-Jäger erklärt, dass man den Thermomix in Raten bezahlen oder abarbeiten kann, indem man Repräsentantin wird. Aber Gudrun Edelmanns Gäste sind unentschieden. Eine will lieber weiterhin kreativ sein und am Herd „brutzle“. Eine andere könnte sich schon vorstellen, dass er eine Erleichterung für ihren Alltag wäre, hadert aber mit dem Preis.

Der Thermomix ist offenbar – trotz aller Heldengeschichten – eine Frage des Geschmacks.

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