Diesjähriger Preisträger der Fields-Medaille: Martin Hairer Foto: Julia Ostendorf

Zahlen faszinieren Martin Hairer seit seiner Jugend – Heute ist das Mathe-Ass ein internationaler Star

Coventry - Der hochgewachsene Junge mit dem kantigem Gesicht, der schmalen Nase und den dunklen Haaren wirkt auf dem Foto ein wenig schüchtern. In der Hand hält er eine Urkunde. Die Auszeichnung für junge europäische Forscher hat er für das Entwerfen von Computer-Schnittstellen bei elektronischen Schaltungen erhalten.

Der Junge auf dem Foto ist Martin Hairer. 23 Jahre später sitzt er in seinem Büro am Stadtrand der englischen Stadt Coventry und hält wieder eine Auszeichnung in der Hand: die Fields-Medaille, die alle vier Jahre vergeben und „Nobelpreis der Mathematik“ genannt wird. Im August wurde sie dem gebürtigen Österreicher auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Seoul verliehen – für seine Forschungen im Bereich der partiellen stochastischen Differentialgleichungen. Neben Hairer wurden drei weitere Forscher ausgezeichnet: der Brasilianer Ártur Avila (35), der Kanadier Manjul Bhargava (40) und die Iranerin Maryam Mirzakhani (37). Anders als beim Nobelpreis gibt es beim Fields-Preis eine Altersgrenze. Der Ausgezeichnete muss im Jahr vor der Verleihung jünger als 40 Jahre gewesen sein.

Mit 38 Jahren im Olymp der Mathematik

Hairer ist jetzt 38 und im Olymp der Mathematik angekommen. Seit 2006 lehrt er als Mathematik-Professor an der University of Warwick. Sein Büro im zweiten Stock des Warwick Mathematics Institute ist schlicht eingerichtet. Außer den Postern aus Peking, Stanford oder Oxford, die im Korridor hängen, lässt kaum etwas darauf schließen, dass hier ein Star-Wissenschaftler arbeitet. Die grüne Tafel, auf der Formeln gekritzelt sind, nimmt den größten Teil des Raums ein. Die Regale sind vollgestopft mit Büchern, auf dem Schreibtisch stehen zwei Monitore. Der bunte Bildschirmschoner ist der einzige markante Farbklecks in dem weißen Raum. Hairer hat sich abgesehen von den Lachfalten und dem Stoppelbart im Vergleich zu dem Foto kaum verändert.

Während andere Jugendliche an ihrem Moped schraubten, war er von Differentialgleichungen fasziniert. Diese Formeln beschreiben Vorgänge, die sich mit der Zeit verändern – „wie etwa die Position eines Planeten auf der Planetenbahn zu jenem Zeitpunkt“, erläutert Hairer. Partielle Differentialgleichungen enthalten mehr als zwei Variablen – so wie Raum und Zeit. Stochastische Differentialgleichungen wiederum enthalten ein Element des Zufalls, weshalb es schwierig ist, dafür ein allgemeingültiges Muster zu finden. Anwendungsgebiete sind der Finanzsektor oder Aktienkurse.

„Ich habe eine Theorie entwickelt, die einer ganzen Klasse Gleichungen mathematischen Sinn gibt.“ So könne man mit seiner Formel mathematisch erklären, wie Papier verbrennt oder sich ein Wassertropfen auf einer Serviette ausbreitet. Beide Vorgänge verlaufen nie immer gleich. Auch der Zufall spielt dabei eine große Rolle, was generelle Voraussagen schwer macht.

Wie verbrennt Papier? Hairer hat es berechnet

So ist Papier unterschiedlich rau und verbrennt unterschiedlich schnell. Ähnliches gilt für Wassertropfen: Ein Teil der Serviette ist besonders saugstark, weshalb sich das Wasser ungleichmäßig verteilt. Um genau diese Zufälligkeit geht es Hairer. „Spezielle Anwendungsfälle werden berechenbar und auf eine solide mathematische Basis gestellt“. Zuvor hatten die Physiker Mehran Kardar, Giorgio Parisi und Yi-Cheng Zhang versucht, das Problem zu lösen, allerdings nur für einzelne physikalische Fragen. Als Mathematiker hat Hairer aber nicht den Spezialfall, sondern das große Ganze und die allgemeingültige Formel im Blick.

„Bei all diesen Vorgängen geht es um Gleichungen, die man als Physiker in bestimmten Fällen ziemlich leicht erraten kann, aber als Mathematiker ist es nicht klar, was die Gleichungen überhaupt bedeuten“. Also hat er eine Art verallgemeinerte Lösung entwickelt, die auf viele Gleichungen dieser Art angewendet werden kann.

2001 promovierte Hairer in Physik an der Universität Genf, doch schon bald wechselte er zur Mathematik. „Gleichungen in der Physik können nach zehn Jahren komplett falsch sein. Was einmal in der Mathematik bewiesen wurde, bleibt für immer wahr. Diese Ewigkeit ist es, was ich an ihr so mag.“

Geniale Ideen beim Radfahren und Backen

Die Idee für seine Entdeckung kam ihm auf dem Weg zur Arbeit. Beim Backen hat er sie weiter entwickelt. Was nicht verwundert, da seine Frau Xue-Mei Li, die auch Mathematik an der Uni Warwick lehrt, backt wie er gerne Apfelstrudel und ist wie er ein Fan von Diffenrentialgleichungen. Seine Erkenntnisse habe er in Rekordzeit verfasst, erzählt Hairer. „Meine Theorie ist noch gar nicht richtig auf Papier veröffentlicht. Ich hatte gutes Timing und sehr viel Glück.“ Zudem beschreite er absolutes Neuland. „Das hat ziemlich viele Ideen hervorgebracht, für die man früher keine Anhaltspunkte hatte“.

Mathematik ist für viele Menschen eine Qual. Für Hairer ist sie Lebensinhalt. „Viele haben Angst vor Mathe.“ Dabei seien Mathematik und Rechnen nicht dasselbe. „Sie haben nicht so viel miteinander zu tun wie Literatur und Rechtschreibung. Man kann mit guter Rechtschreibung noch lange keinen Roman schreiben.“ Bei der Mathematik sei „genaues Kopfrechnen wurscht. Zur Not nimmt den Taschenrechner zu Hilfe.“ Was einen guten Mathematiker ausmacht seien „Präzision und Kreativität“ sowie Ergebnisse, „die man nicht erwarten würde“.

Schon sein Vater war Professor für Mathematik

Seine Liebe zu Zahlen liegt in der Familie. Schon sein Vater Ernst war Mathematik-Professor in Genf. Sohn Martin entspricht so gar nicht den gängigen Klischees vom verschrobenen Mathe-Ass. „Ein paar Exzentriker unter Mathematikern gibt es immer, aber so viele sind es auch wieder nicht“. Hairer ist eher der bodenständige Typ, ruhig und bescheiden und ein Fan von Horrorschriftsteller Stephen King. „Ich bin froh wenn der ganze Trubel um die Medaille sich wieder legt“, sagt er und lächelt. Sich selbst sieht er nicht als Genie. „Ich freue mich über die Medaille, es gibt aber viele Mathematiker, die diese Medaille genauso verdient hätten.“

An der Universität Warwick ist man indes stolz auf den Ausnahme-Dozenten. Auf Bildschirmen in der Bibliothek und auf der Internetseite lächelt Martin Hairer den Studenten entgegen. Viele haben schon von ihm gehört. Wie ein Mathematik-Student aus dem dritten Semester, der an der Haltestelle auf den Bus wartet. „Professor Hairer? Klar, kenne ich. Es heißt, er nimmt sein Fahrrad immer mit ins Büro – egal ob die Sonne scheint oder es wie aus Kübeln gießt“.