Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin beantwortet während einer Pressekonferenz zur Vorstellung ihres Berichts über antisemitische Vorfälle 2018 Fragen von Journalisten. Foto: dpa/Wolfgang Kumm

Ein Anschlag auf eine Synagoge in Deutschland war zu erwarten, sagt Benjamin Steinitz. Die Mehrheitsgesellschaft habe zu lang nicht auf die Warnungen aus der jüdischen Gemeinschaft reagiert, kritisiert der Antisemitismusexperte.

Berlin - Schon vor dem Anschlag von Halle haben Juden in Deutschland aus Angst Gottesdienste zu Jom Kippur gemieden, sagt Benjamin Steinitz. Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer des Bundesverbands Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) über die wachsende Gewaltbereitschaft gegenüber Juden in Deutschland.

Herr Steinitz, der Bundespräsident hat gestern gesagt, ein Anschlag wie der auf die Synagoge in Halle sei ihm unvorstellbar gewesen. Stimmen Sie ihm zu?

Der Anschlag hat mich schockiert und natürlich hat niemand konkret mit ihm gerechnet. Unvorstellbar war er aber nicht. Erst vergangenen Freitag gab es einen Angriffsversuch auf eine Berliner Synagoge, der viele Jüdinnen und Juden sehr besorgt hat. Einige haben deswegen die Gottesdienste an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, nicht besucht - und das alles vor dem schrecklichen Terroranschlag in Halle. Angesichts der jüngsten Geschichte rechtsextremer Terrorakte in Christchurch, Pittsburgh oder vor einigen Jahren in Norwegen war es leider immer auch zu erwarten, dass sich so etwas in Deutschland ereignen kann, erst recht vor dem Hintergrund der NSU-Mordserie.

Sie beobachten die Entwicklung von Antisemitismus seit Jahren. Welche Entwicklung machen Sie aus?

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin nimmt seit 2018 eine Zunahme verrohter Formen des Antisemitismus wahr: Antisemitismus äußert sich immer direkter und gewalttätiger. Dieser Trend hat sich im ersten Halbjahr 2019 wieder etwas abgeschwächt, die Zahl antisemitischer Angriffe und Bedrohungen bleibt aber über dem Niveau von 2017. Die Zahl der Vorfälle mit einem rechten Hintergrund blieb ebenfalls auf demselben Niveau - hier haben wir also entgegen dem Trend keinen Rückgang zu verzeichnen. Gleichzeitig haben wir im Bundesgebiet in den vergangenen Monaten Fälle extremer antisemitischer Gewalt registriert - so nennen wir antisemitische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder tatsächlich hatten.

Nicht nur die Zahl der antisemitischen Straftaten ist gewachsen, sondern auch die Sensibilität der Politik und der Wunsch nach Prävention und Gegenwehr. Mittlerweile gibt es Antisemitismusbeauftragte und ein koordinierteres Vorgehen. Nutzt das alles nichts?

Wir sehen schon erste Erfolge einer höheren Sensibilisierung beispielsweise der Berliner Polizei. Aber Antisemitismus ist in einer postnazistischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik ein weit verbreitetes und vielschichtiges Problem. Die Bekämpfung des Antisemitismus braucht einen langen Atem.

Politiker aller Parteien werfen der AfD vor, Wegbereiter für Antisemitismus und rechte Gewalt zu sein. Wie sehen Sie diese Einschätzung?

Antisemitismus und rechtsextreme Gewalt auch in der Dimension konkreter Vernichtungsabsichten gab es auch schon vor dem Auftreten der AfD. Insofern müssen antisemitische und rechtsextreme Gewalt als Ergebnisse einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Dennoch bin ich der Meinung, dass die AfD insbesondere mit ihren zum Teil die Schoa verharmlosenden Versuchen, sich selbst als marginalisierte politische Minderheit zu inszenieren, dazu beiträgt, dass sich die Debattenkultur in den vergangenen Jahren verschlechtert hat. Die politische Auseinandersetzung ist von einer fortwährenden Feindbildbestimmung gesellschaftlicher Minderheiten geprägt. Diese erschreckende Normalisierungstendenz verrohter Sprache und Stigmatisierung können sicherlich Terroranschläge wie in Halle begünstigen.

Wie nehmen Sie gegenwärtig die Stimmung innerhalb der jüdischen Community wahr?

Die Stimmung in den Jüdischen Gemeinden hat sich schon 2012 im Zuge der so genannten Beschneidungsdebatte und nochmals im Sommer 2014 vor dem Hintergrund hunderter zum Teil offen judenfeindlicher Demonstrationen im ganzen Bundesgebiet, dutzenden Angriffen auf Juden und Jüdinnen und Menschen, die sich für das Existenzrecht Israels einsetzten, und eines Brandanschlags auf die Synagoge in Wuppertal massiv verschlechtert. Die damals artikulierten Warnungen, dass Juden und Jüdinnen beginnen, ihre Lebenssituation in Deutschland auf den Prüfstand zu stellen, wurden von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft jenseits von politischen Sonntagsreden leider viel zu sehr mit Schweigen bedacht. Dass die Situation jetzt besonders gravierende Auswirkungen auf die jüdischen Gemeinden Deutschlands hat, versteht sich von selbst.

Verstehen Sie Juden, die das Gefühl haben, der Schwur vom „nie wieder“, der der Bundesrepublik zugrunde liegt, sei brüchig?

Ja.