Intensivpflege für Menschen mit außergewöhnlich hohen Betreuungsaufwand soll künftig vor allem stationär erfolgen. Foto: Claudia Leihenseder

Der Gesundheitsminister will die Betreuung von Beatmungspatienten reformieren. Die sehen ihr Selbstbestimmungsrecht gefährdet. Rund 67 000 Unterschriften hat eine Petition gegen Spahns Pläne bereits.

Berlin - Pläne von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zur Reform der ambulanten Intensivpflege haben bei Behinderten-Verbänden große Sorge ausgelöst. Sie fürchten um ihr Recht, den Ort, wo sie gepflegt werden, frei wählen zu dürfen. Eine Petition gegen den Spahnschen Gesetzentwurf hat schon über 67 000 Unterschriften erreicht.

Darum geht es im Gesetzentwurf: Menschen, die eine Rund-um-die-Uhr-Intensivpflege benötigen, sollen eine bessere und auch besser kontrollierte Betreuung bekommen. Betroffen sind hier vor allem Menschen, die – etwa nach einem Unfall – künstlich beatmet werden müssen. Der größte Anteil machen dabei Patienten aus, die unter einem apallischen Durchgangssyndrom (umgangssprachlich „Wachkoma“) leiden. Für diese Personengruppen soll deshalb die Pflege in der eigenen Wohnung künftig die Ausnahme sein. In der Regel soll sie in Pflegeheimen oder hoch spezialisierten Beatmungs-WGs stattfinden.

Spahn kann „Ängste und Sorgen nachvollziehen“

Spahn trat am Donnerstag Befürchtungen entgegen. Er könne „Sorgen und Ängste nachvollziehen“, sagte er im Blick auf Proteste von Betroffenen und Verbände. Es gehe aber nur um einen kleinen Personenkreis. „Es geht nicht um denjenigen, der nicht 24 Stunden Intensivbetreuung braucht“, sagte der Minister. Ferner nicht betroffen seien Menschen, die „hauptsächlich von ihren Angehörigen gepflegt“ werden oder eine Assistenz haben, und auch nicht um Menschen, „die am sozialen Leben teilnehmen“. Die umstrittene Regelung soll nur für Menschen gelten, die 24 Stunden, sieben Tage die Woche, Intensivpflege benötigen und in der Regel nicht selbst entscheiden könnten, wo sie gepflegt werden und wo sie seien, sagte Spahn. Dies gelte etwa für Wachkoma-Patienten. Kinder und Jugendliche betreffe die geplante Gesetzesänderung ebenfalls nicht.

In der Begründung des Gesetzentwurfes ist davon die Rede, „Fehlanreize und Missbrauchsmöglichkeiten zu beseitigen“. Dass es die gibt, ist in der Branche ein offenes Geheimnis. 30 000 bis zu 50 000 Intensivpatienten werden heute laut Schätzungen außerhalb der Kliniken ambulant gepflegt. Die Zahlen gehen rapide nach oben. Im Jahr 2005 gab es nur rund 1000 solcher Fälle. Dafür zahlen Krankenkassen bis zu 25 000 Euro im Monat. Für private Pflegedienste ist das ein äußerst lukratives Geschäft. So lukrativ, dass bereits globale Finanzinvestoren in diesen Markt einsteigen. Dabei ist das qualifizierte Personal knapp. Untersuchungen zeigen, dass in diesem hoch sensiblen Feld nicht selten ungeschultes Personal ohne jede Erfahrung mit Beatmungspatienten eingesetzt wird. Angehörige scheuen oft davor zurück, die Patienten in Pflegeheime aufnehmen zu lassen, weil sie die finanzielle Belastung durch den hohen Eigenanteil fürchten. Eine Grauzone sind sogenannte Wohngemeinschaften, die von privaten Anbietern gegründet werden. Dort ist die Einmietung zwar billig, aber für die Betreiber sind die hohen Einnahmen für Beatmungspatienten so interessant, dass sie keinen Anreiz haben, die in vielen Fälle mögliche Re-Aktivierung der selbstständigen Atmung einzuleiten. Spahns Gesetz will diesen Wohngruppen nun erheblich präzisere medizinische Vorgaben machen.

Missstände und Fehlanreize

Armin Nentwig, Gründer und Chef der Deutschen Wachkoma-Gesellschaft, begrüßt das Vorhaben. Er findet für die heutige Situation in den Wohngruppen folgenden Vergleich: „Die privaten Dienste zu motivieren, eine Entwöhnung von der künstlichen Beatmung einzuleiten, ist wie von einem Metzger zu verlangen, Vegetarier-Kurse für seine Kunden anzubieten.“

Dass es Missstände und Fehlanreize gibt, bestätigt auch Jens Matk. Der Krankenpfleger in der Intensivpflege ist Vorsitzender des Selbsthilfe-Vereins „ALS-mobil“. Er hat die Petition initiiert, die von vielen Verbänden unterstützt wird, darunter der Allgemeine Behinderten-Verband in Deutschland. „Ja“, sagt Matk unserer Zeitung, „Spahn hat Recht, wenn er von Missständen spricht.“ Die gebe es. Es gebe „schwarze Schafe“ bei den Pflegediensten und „handfeste Geschäftsinteressen“. Es gebe auch die Scheu vor dem Pflegeheim wegen der hohen Eigenkosten. Darum aber gehe es nicht im Kern. „Es geht um Selbstbestimmung“, sagt Matk. „Darum, dass jeder Mensch, auch der schwer Pflegebedürftige, das Recht hat, seinen Wohn- und Lebensmittelpunkt frei zu wählen.“

„Spahn greift tief in die Freiheitsrechte schwerst Kranker ein“

So sieht das auch Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Er wirft dem Minister vor, er greife mit dem Gesetz „tief in die Freiheitsrechte schwerst kranker Menschen ein“. Schließlich solle die Intensivpflege in den eigenen vier Wänden „praktisch verhindert werden“. Dies sei für die Patienten und ihre Angehörigen „untragbar“. Viele Jahrzehnte sei dafür gekämpft worden, dass jeder Betroffene sein Zuhause selbst bestimmen könne. „Es wäre absurd, wenn jetzt nur schwerstkranke Kinder daheim gepflegt werden dürfen und sie bei Volljährigkeit von den Krankenkassen gezwungen werden, ins Pflegeheim zu ziehen“, sagte Brysch. Vielmehr müssten Bund und Länder die Qualitätsanforderungen an Anbieter für Intensivpflege erhöhen und die Kontrollen verschärfen. „Betrug darf sich nicht mehr lohnen.“

Ob es tatsächlich so kommt, ist noch offen. Der Koalitionspartner SPD findet die Grundrichtung gut. „Aber an dieser Stelle schießt der Gesetzentwurf tatsächlich über das Ziel hinaus“, sagt die pflegepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagfraktion Heike Baehrens unserer Zeitung.