Im gläsernen Käfig: Marlis Petersen (Lulu, Mitte), Pavlo Hunka (Schigolch, li.), Matthias Klink (Alwa), Daniela Sindram (Geschwitz) Foto: Winfried Hösl

Die Münchner haben ihren Generalmusikdirektor Kirill Petrenko seit seinem Amtsantritt 2013 ins Herz geschlossen. Dass es dafür gute Gründe gibt, bewies der 43-jährige Russe am Montagabend mit der ebenso schönen wie schwierigen Oper „Lulu“ von Alban Berg – und mit Marlis Petersen in der Titelpartie.

München - Wer ist Lulu? Wer ist die Frau, die Frank Wedekind in seinen Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ beschreibt; wer ist sie, die Alban Bergs Oper über Wedekinds Schauspiele den Titel gab? Ist sie eine Schlange wie jene, die der Zirkusdirektor in Bergs Prolog vorstellt („Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, / zu locken, zu verführen, zu vergiften / und zu morden, ohne dass es einer spürt“)? Ist Lulu wirklich die „Urgestalt des Weibes“? Oder ist sie doch vor allem eine (männliche) Projektionsfigur – ganz im Sinne ihrer eigenen, irrlichternden Aussage „Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat. Und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin“?

Dass Inszenierungen von Alban Bergs 1937 als Fragment uraufgeführter zweiter Oper diese Fragen sehr unterschiedlich beantworten, liegt nicht nur am Blick der jeweiligen Regisseure, sondern maßgeblich auch an den Sängerinnen der Titelpartie. Manchen von ihnen nimmt man den männermordenden Vamp einfach nicht ab. Andere sind zu stark, zu selbstbewusst, als dass man ihnen ein Leiden an Liebe und Leben abnehmen könnte. Dabei ist Lulu ja beides: kalt und heiß, stark und verletzlich, selbstbewusst und doch ständig auf der Suche nach (männlicher) Stütze und Bestätigung. Diese Frau verstehen zu wollen ist heute nicht mehr ganz einfach; Grillparzers Welt hat sich mittlerweile doch ziemlich weit von der unsrigen entfernt.

Diese Frau zeichnen zu wollen ist noch schwieriger. Es ist sogar dann noch ein heikles Unterfangen, wenn man, wie am Montagabend in der Bayerischen Staatsoper München, ihre Umrisse auf ein labyrinthisches Gebäude aus (Plexi-?)Glasscheiben malen lässt: ein durchsichtiges, hermetisches, gleichzeitig geheimnisvolles und geheimnisloses Haus. Ein Gefängnis.

Das Einheitsbühnenbild stammt ebenso wie die Inszenierung von dem seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum als Opernregisseur gefeierten Moskauer Dmitri Tcherniakov, und es erhält seinen Reiz nicht nur durch seine zahlreichen Spiegelungen und durch die verwinkelten Wege, die es den Bühnenfiguren bis zu den wenigen Türöffnungen abverlangt, sondern auch durch die fein ausdifferenzierte Beleuchtung, mit deren Hilfe Gleb Filshtinsky Personen vervielfachen oder wie aus dem Nichts erscheinen und wieder verschwinden lassen kann.

Besonders eindrucksvoll ist dies, wenn im ersten Akt Statisten als Musiker auf der Bühne agieren. Oder wenn etwa ein Dutzend tanzende Pärchen auf die Bühne gezaubert werden.

Es sieht hübsch aus, wie Männer und Frauen im mal harmonischen, mal aggressiven Mit- und Gegeneinander den Beziehungen Lulus den Spiegel vorhalten: hübsch, aber auch ein wenig dekorativ; außerdem reduzieren die Körperbewegungen der Tänzer ihre Begegnungen auf das rein Physische. Im letzten, 1979 vom Komponisten Friedrich Cerha vervollständigten dritten Akt, der trotz seines zähen Paris-Bildes zurzeit auf den Bühnen eine Art zweiten Frühling erlebt, lässt der Regisseur die Tanzstatisten auf sprechende Weise zu Eis erstarren. Unbeweglich, wie schockgefroren müssen sie stehen bleiben, bis die Titelheldin die Kälte der Welt nicht mehr erträgt, bis sie Jack the Ripper die Mordwaffe aus der Hand reißt und sich selbst das Leben nimmt.

Dmitri Tcherniakovs Inszenierung ist solide, man kann ihr nicht viel vorwerfen. Wirklich spannend jedoch geht es an diesem Abend eher unter der Bühne zu. Da nämlich steht Kirill Petrenko am Pult und dirigiert eine enorm klare, klug disponierte „Lulu“.

Im ersten Akt mögen sich die vielen musikalischen Details, die der Münchner Generalmusikdirektor gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsorchester zutage fördert, noch nicht immer zum Bogen fügen; da wirkt vieles noch wie aneinandergereiht. Dann aber ergibt sich ein Fluss, und Bergs gedanken- und fantasievoller Umgang mit jener Zwölf-Ton-Reihe, auf der die ganze Oper fußt, macht die Zuhörer ebenso staunen wie die emotional aufgeladene nachromantische Klangsinnlichkeit, die vor allem in den Orchester-Zwischenspielen immer wieder großen Gefühlen Raum gibt.

Auf der Bühne stehen exzellente Sänger-Darsteller: ein geradezu idealer, luxuriös besetzter „Lulu“-Cast, dessen stärkste männliche Vertreter der lebendige, durchdachte, kantige Dr. Schön von Bo Skovhus und der weiche, leidenschaftlich, höhenstark und ausgesprochen präzise singende Alwa des Stuttgarter Ensemblemitglieds Matthias Klink sind.

Marlis Petersen, die übrigens an der Stuttgarter Musikhochschule Gesang studiert hat, ist zwar (anfangs noch) nicht die Figur, die sie singt, aber sie wird zu ihr. Nach und nach entschlüpfen ihrer Stimme die lyrische Sopranistin wie die Koloratursopranistin – beide sind mit der Fähigkeit zu klar fokussierter Tonproduktion und feinsten Höhentönen gesegnet. Und nachdem sie im ersten Akt noch wie eine edel-distanzierte Dame mit zickigen Anteilen gewirkt hat, zeichnet Petersen die Lulu im Laufe des Abends als eine Figur, die vielleicht manchmal eine Schlange, vor allem aber äußerlich stark und innerlich schwach ist: eine unsichere Egozentrikerin, die es in Kauf nimmt, dass sie von den Männern ausgenutzt wird, weil sie ohne eine Bestätigung von außen nicht leben kann.

Wer Lulu ist? Menschen mit Ohren, die in München in die Oper gehen, haben ziemlich gute Chancen, ihr dort zu begegnen. Sie singt wundervoll, und in ihr lebt die glühende Kälte der Welt.

Nochmals am 29. Mai, am 3., 6. und 10. Juni. Karten unter 089 / 21 85 19 20 oder unter tickets@staatsoper.de. www.staatsoper.de