Der Bauwahn an der belgischen Küste schreckt immer mehr Touristen ab. Foto: dpa

Belgiens Nordseeküste ist schön – eigentlich. Doch die weitläufige Dünenlanschaft wird durch massige Plattenbauten verschandelt. Doch so langsam regt sich Widerstand.

U Brüssel - m es mit Asterix zu sagen: „Die spinnen, die Belgier.“ Wer das erste Mal in Belgien am Meer ist staunt erst einmal. Auf der einen Seite: schönster Sandstrand, bei Ebbe bis zu 500 Meter breit. Dahinter die Nordsee, weiter Horizont. Zuweilen ein Segelboot. Bei einer Drehung des Blickwinkels um 180 Grad dann das ganze Elend: eine Mauer aus Beton auf. An der Scheidelinie von Strand und Land stehen uniforme Blöcke von Ferienwohnungen. Seelen- und fantasielose Hochhäuser, Plattenbauten wie in Berlin Marzahn. Zehn Geschosse, 14-Geschosse, in Ostende in der zweiten Reihe sogar ein Wohnturm mit 33 Etagen. Hier das Meer und die Weite, dort die totale Enge. Vor jedem Fenster zur See klebt ein Mini-Balkon, kaum Platz für zwei Liegestühle.

Die Belgier nehmen es mit Humor. Augenzwinkernd nennen sie das Kollektiv der aufeinandergestapelten Appartements „unseren Atlantikwall“. Obwohl die Deutschen sich in beiden Weltkriegen hier schlimm aufgeführt haben, begegnen die Flamen ihnen überwiegend ohne Vorbehalte. Dabei wurden auch hier die Menschen für Hitlers Atlantikwall, mit dem er die Invasion der Alliierten abwehren wollte, zu Zwangsarbeit verpflichtet. Und für das Bollwerk wurde so manches alte Luxushotel zum Steinbruch.

Die gespaltene Nation urlaubt gemeinsam

Thibaut, ein Mittdreißiger in einer Kneipe in Ostende, erklärt die Häufung von Hochhäusern so: „Es wollen halt alle den herrlichen Blick auf das Meer genießen.“ Fabienne, eine 70-Jährige aus Gent, räumt immerhin ästhetische Schwierigkeiten mit der Architektur der Skyline ein: „Von außen sind die Gebäude hässlich, aber von innen haben sie ihren Charme.“

Die Belgier sind eine gespaltene Nation. Die Niederländisch sprechenden Flamen und Französisch sprechenden Wallonen bewegen sich meist getrennt in ihren Parallelgesellschaften. Hier an den 65 Kilometern belgischer Küste kommen sie sich räumlich nahe. Familien aus allen Landesteilen und Sprachzonen, ja neuerdings sogar einige belgische Marokkaner verbringen in den 14 Dörfern am Meer ihre Sommerferien. Man bleibt meist für sich, pflegt aber ähnliche Gewohnheiten: Es wird reichlich gegessen, Muscheln, Fritten. Gern süß, sauer oder fettig. Das belgische Bier fließt in Strömen. Und eine Kirmes für die Kinder ist immer irgendwo in der Nähe.

Der Meerblick war teuer – also wurde gebaut

Doch was ist der Ursprung dieser ungewöhnlichen Konzentration von Zweckbauten? Benjamin Pors, Autor eines Aufsatzes in der belgischen Architekturzeitschrift A+, führt „städtebauliche Toleranz“ an. Das ist nett ausgedrückt. Am Strand sieht es so aus, als erfordere das Errichten von Wohntürmen in Belgien nicht mehr Formalitäten als das Aufstellen einer Frittenbude. Das beflügelt offenbar die Immobilienspekulanten. Der Architekt Stefan Devoldere, der 2015/2016 das Amt des „vlaams bouwmeesters“ ausübte und damit so etwas wie der Ästhetikbeauftragte des flämischen Landesteils war, sagt: „Weil der Meerblick so teuer war, wurde seit den 60er Jahren die Trennlinie zwischen Land und Meer regelrecht zubetoniert.“ Eine Straßenbahn verbindet die gesamte Küste. Die „Kusttram“, wie sie hier heißt, wird geliebt. Bei schlechtem Wetter fahren Familien spazieren, springen raus, wo es gefällt, steigen wieder ein, wenn es langweilig wird. In der Hochsaison ein ideales Verkehrsmittel, um die Küste zu entdecken.

Es fällt schwer zu glauben, aber der Massen-Tourismus an der belgischen Küste hat durchaus exklusive, ja royale Ursprünge. Es war der belgische König Leopold II., der das Land von 1865 bis 1909 regierte, und den Grundstein dafür legte. Der weitgereiste Monarch liebte die Küste. Mit den Millionen, die der König seiner Kolonie, dem Kongo, abpresste, ließ er viele Prachtbauten errichten, auch in Ostende. „Brüssel an der Küste“ gab er als Motto aus. Der König verbrachte hier seine Sommer und verlieh damit dem Badeort Prestige. Die Reichen und Schönen seiner Zeit wollten es ihm nachtun. Ende des 19. Jahrhunderts wurden so Luxushotels im Art-Deco-Stil gebaut mit klangvollen Namen wie Majestic, Continental oder La Plage.

Der Glanz der Seebäder ist dahin

Doch bald kam der Niedergang. Es ging abwärts mit der Monarchie und auch mit dem Renommee der Seebäder. Als König Leopold II. starb, war er isoliert im europäischen Hochadel. Seine brutale Art, den Kongo auszubeuten, war schon damals verpönt. Schätzungen gehen davon aus, dass zehn Millionen Kongolesen den Kolonialverbrechen zum Opfer fielen. Bislang ist dennoch niemand auf die Idee gekommen, sein übergroßes Reiterstandbild an der Promenade von Ostende abzubauen.

Auch der Glanz der belgischen Seebäder bröckelte. Zwischen den Weltkriegen standen immer mehr Luxushotels leer. Geschäftsleute versuchten, neue Kundenschichten zu erschließen. Immer mehr ehemalige Luxusherbergen wurden abgerissen und durch Appartement-Blocks ersetzt. Benjamin Pors sieht die Veränderungen als Prozess einer Banalisierung. Vom königlichen Seebad mit Luxushotel für den Hochadel zum Hotspot des Billigtourismus. Von Pracht zu Banalität. So elitär und international der Tourismus am Anfang an der belgischen Küste war, umso bürgerlicher, umso belgischer wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Erben haben keine Lust auf normierte Ferienwohnungen

Die meisten Hochhäuser entstanden in den 60er Jahren. Immobilienentwickler wussten eine gewisse Saite der belgischen Volksseele anzuschlagen. Die Niederländer fuhren in den 70ern am liebsten mit ihrem Campinganhänger durch ganz Europa, die Deutschen zog es in Massen an die Costa Brava und die Adria. Und viele Belgier träumten davon, eine kleine zweite Wohnung in ihrem eigenen Land am Meer zu haben. Das sagt einiges über die Bescheidenheit der Belgier aus. Zwei Schlafzimmer, Küche, WC. Und wenn man es sich leisten kann, Meeresblick. Viel mehr braucht es für viele Belgier nicht, um sich den Traum vom Sommer am Meer zu verwirklichen. Im Besitz fast jeder belgischen Großfamilie befindet sich inzwischen eine Ferienwohnung am Meer.

Doch auch Belgien leidet unter den demografischen Veränderungen. Die erste Generation von Käufern der Ferienwohnungen aus den 70er Jahren tritt ab. Viele Erben wissen nicht mehr viel anzufangen mit dem Familienbesitz. Nur im Sommer sind die Wohnungen halbwegs ausgelastet. Viel steht zum Verkauf. Außerhalb der Saison und wochentags sind viele Badeorte so leer wie Geisterstädte im Wilden Westen.

Der Klimawandel erzwingt ein Umdenken

Schon ist absehbar, dass das Biotop der belgischen Küste vor der nächsten dramatischen Veränderung steht. Die Klimaerwärmung lässt die Meeresspiegel steigen. Szenarien zufolge wird der Meeresspiegel im Jahr 2100 etwa einen Meter höher liegen als heute. Der Architekt Devoldere warnt: „Wenn wir auf längere Sicht den heutige Küstenverlauf halten wollen, werden wir die Deiche kräftig erhöhen müssen – mit drastischen Folgen für den Meerblick.“ Das Team des „vlaams bouwmeesters“ hat bereits Architekturwettbewerbe ausgelobt, um Entwicklungsszenarien für die belgische Küste auszuarbeiten. Eine Möglichkeit ist etwa, durch massives Aufschütten von Sand wieder eine Dünenlandschaft zu schaffen. Devoldere: „Sicher ist, dass sich der Anblick unserer Küste drastisch verändern wird – und damit auch das Geschäftsmodell der Immobilienentwickler, die den Blick aufs Meer verkaufen.“

Vielleicht nutzt den Belgiern ja ihr Talent für die Improvisation. Zwar überzeugen die Lösungen nicht immer: Radwege enden schon einmal im Nichts, Treppen stoßen an Mauern, Plastikpoller sind mit Klebeband geflickt. Längst hat sich dafür der Begriff „belgium solutions“ eingebürgert. Eine solche „belgische Lösung“, um den Folgen des Klimawandels zu begegnen, spukt immerhin schon in den Köpfen der Belgier herum. Ein Brüsseler bringt sie auf den Punkt: „Wir müssen nur die kleinen Lücken zwischen den Betonburgen an der Küste mit Stöpseln verschließen, dann kann das Meer ruhig kommen.“