Die Zahnradbahn ist nicht barrierefrei, weshalb die Mutter Anna Lampert auf die Fahrt inzwischen grundsätzlich verzichtet. Foto: Baur

Anna Lampert wohnt direkt an der Zahnradbahn-Route in Stuttgart-Degerloch. Wenn sie mit ihrem Kinderwagen unterwegs ist, kann sie die Bahn allerdings nicht nutzen. Weil sie dafür immer jemanden um Hilfe bitten müsste. Aber auch die Alternative hat ihre Tücken...

Degerloch/S-Süd - Nur knapp drei Kilometer liegen zwischen der Stadt- und Zahnradbahnstation „Degerloch“ sowie dem Marienplatz im Stuttgarter Süden, doch für Menschen mit Kinderwagen und Rollstuhlfahrer kommt die Strecke mitunter einer Odyssee gleich. So geht es der 37-jährigen Anna Lampert. Sie ist Mutter eines acht Monate alten Sohnes und wohnt am Haigst. Ideal, möchte man meinen, denn die Zahnradbahnstation liegt in nächster Nähe. Doch weit gefehlt.

„Die Zahnradbahn nehme ich grundsätzlich nicht“, sagt Lampert. Denn mit Kinderwagen sei man stets auf den guten Willen anderer Fahrgäste angewiesen, da es in der Zahnradbahn keine Rampe gibt. So müssen Eltern aktiv um Hilfe beim Ein- und Ausladen bitten, um überhaupt mitfahren zu können.

Zu eng für den Kinderwagen

„Je nach Uhrzeit sind aber oft gar nicht genügend Leute in der Bahn, die helfen können“, sagt Lampert. Das Problem verlagert sich in den Stoßzeiten morgens und abends: Helfende Hände gibt es da, zumindest theoretisch, genug. Doch es mangelt an Platz. „Es ist viel zu eng, ein Kinderwagen passt kaum rein“, so Lampert. Ihre Entscheidung ist klar: Wenn die Zeit es erlaubt, zieht sie den Bürgersteig auf der Alten Weinsteige vor, um in die Stadt zu kommen.

Der Rückweg nach Degerloch mit der Alternative zur Zahnradbahn, der Stadtbahn, erweist sich allerdings als nicht minder kompliziert. 18 Minuten dauert die Fahrt laut VVS-App: zunächst vom Marienplatz zum Charlottenplatz, von dort aus weiter mit der U12 nach Degerloch. Damit ist man zwar acht Minuten länger unterwegs als mit der Direktverbindung über die „Zacke“, doch, so die Annahme, dank barrierefreier Stadtbahn-Stationen mit Kinderwagen auf der sicheren Seite.

Der Charlottenplatz ist Endstation

Doch auch diese Annahme erweist sich als Fehlschluss und die Verbindung über den Charlottenplatz als Irrweg, der kaum Orientierung bietet. Sage und schreibe drei schlecht ausgeschilderte Aufzüge, die kaum Platz für zwei Kinderwagen bieten, müssen Bewegungseingeschränkte benutzen, um von Gleis 2 auf Gleis 3 zu gelangen. Als wäre es nicht umständlich genug, ist der dritte Aufzug, der zum Zielgleis führen sollte, defekt.

Damit ist der Charlottenplatz Endstation für Rollstuhlfahrer auf ihrem Weg nach Degerloch. Mütter und Väter sind wieder einmal auf Fremde angewiesen, die ihnen helfen, den Kinderwagen die Treppen hochzutragen. Nicht wenige greifen in solchen Situationen zu einem eigentlich verbotenen Mittel und lassen ihren Wagen auf der Rolltreppe hinauffahren. Für Rollstuhlfahrer aber ist auch das keine Option.

Dass bewegungseingeschränkte Menschen ständig Umwege gehen müssten, wertet Susanne Belz als Ergebnis der vorherrschenden Geisteshaltung. Die 38-Jährige leitet das vom Sozialministerium geförderte Büro für Antidiskriminierungsarbeit in Stuttgart, dessen Aufgabe unter anderem in der Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Barrierefreiheit besteht. „Stadtplaner denken meist nur an Menschen, die schnell auf zwei Beinen unterwegs sind“, sagt Belz.

5,9 Millionen Euro für Inklusionsthemen

Dabei könnte man in manchen Bereichen schnell Verbesserung erzielen. Durch größere Piktogramme und eine klarere Ausschilderung etwa könnte man zumindest die Orientierung an den Stadtbahnstationen erleichtern. Doch die grundsätzliche Bereitschaft, konsequent barrierefrei zu bauen, lasse in Stuttgart noch zu wünschen übrig. „Es herrscht die Haltung vor, dass man für Minderheiten teure Extras bauen muss“, so Belz. Ein Irrtum, sagt sie, denn von Barrierefreiheit profitiere die ganze Gesellschaft.

Obwohl sich auch die Stadt Stuttgart zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat und im Doppelhaushalt 5,9 Millionen Euro in Inklusionsthemen investiert, klafft eine große Lücke zwischen Theorie und Praxis. Laut Konvention nämlich müssten bauliche Anlagen „ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar“ sein. Ein hehres Ziel, dem viele Verbindungen noch lange nicht gerecht werden.