Abschlussfeier an einer amerikanischen Highschool Foto: www.mauritius-images.com

Behindertenrechte werden in den USA schon lange als Bürgerrechte verstanden. Der Abbau von Barrieren begann vor 40 Jahren mit der Öffnung der Schulen für Kinder mit Handicaps.

Washington - Stephanie träumt von allem, was sich amerikanische Teenager so wünschen. Sie möchte ein „Date“, also einen Partner finden, viele Freunde haben, das College besuchen und später einmal in einem spannenden Job arbeiten. Am besten irgendwas mit Kunst. Nichts von alledem fühlt sich für die 16-jährige Schülerin der Luther Burbank Highschool in Kalifornien außer Reichweite an. Obwohl sie seit Geburt weder ihre Arme noch ihre Beine gebrauchen kann.

Ihre Lehrerin Elizabeth Villanueva erzählt einem Reporter der „Sacramento Bee“ von ihrer ersten Begegnung mit dem aufgeweckten Mädchen im Klassenzimmer. „Ich fragte sie, wie ich ihr helfen kann“, erinnert sich die Pädagogin, die damals einigermaßen ratlos vor dem Rollstuhl stand. „Steck ihr einfach einen Stift in den Mund“, riet ihr ein Mitschüler, für den Stephanies Anwesenheit völlig normal war. Sie staunte, als sie sah, wie gut die „Mundschrift“ des Mädchens war. Und nicht nur das. Die Einser-Schülerin brillierte in Leistungskursen für Spanisch, Englisch und Geometrie.

Stephanie ist eine von 70 mild- bis schwerstbehinderten Kindern, die in die Highschool mit rund 1700 Schülern gehen. Ihr Vater ist überzeugt, dass seine Tochter nur deshalb so weit gekommen ist, weil sie seit dem zweiten Schuljahr mit nichtbehinderten Kindern gemeinsam lernen konnte. „Seit ich in eine allgemeine Schule gehe, fühle ich mich normal“, sagt auch Stephanie, die zuvor einen Kindergarten für Behinderte und ein Sonderschulprogramm besuchte hatte. Aber auch ihre Mitschüler profitierten von der Erfahrung, in einem Umfeld aufzuwachsen, das Toleranz und Akzeptanz fördert.

Gesetz feiert Geburtstag

Dass heute nach einer Statistik des US-Bildungsministeriums 95 Prozent aller rund 6,5 Millionen sehgeschädigten, gehörlosen, verhaltensauffälligen, körperlich oder geistig behinderten Schüler in den USA Regelschulen besuchen, geht auf ein Gesetz zurück, das in diesem Jahr seinen vierzigsten Geburtstag feiert.

Mit dem Individuals with Disabilities Education Act (IDEA) von 1975 gehören die USA zu den internationalen Vorreitern der Inklusion – in Deutschland ist dieses Ziel erst seit 2009 gesetzlich verankert. Die amerikanische Regelung gibt den Betroffenen das Recht, in der „am wenigsten einschränkenden Umgebung“ und bis „zur maximalen Angemessenheit“ mit nichtbehinderten Kindern unterrichtet zu werden. Damit verbunden ist der Anspruch auf eine individuelle Betreuung von der Früherkennung im Alter von unter zwei Jahren bis zum Ende der Highschool.

Zusätzlichen Biss erhielt der amerikanische Inklusionsanspruch, als Präsident George Bush vor 25 Jahren im Rosengarten des Weißen Hauses den Americans with Disabilities Act (ADA) unterzeichnete – ein Gesetz, das die Diskriminierung Behinderter verbietet. Nicht wenige sehen darin das größte Erbe seiner Präsidentschaft. „Es ist eine der großen Bürgerrechts-Errungenschaften in der amerikanischen Geschichte“, lobt die republikanische Cathy McMorris Rodgers aus Washington State das Gesetz. „Es hat 50 Millionen Menschen, wie meinem Sohn Cole, die Chance gegeben, den amerikanischen Traum zu leben.“

Damit erhielten Behinderte einen Rechtsanspruch auf ein Leben mit immer weniger Barrieren – nicht nur in den Schulen. Er umfasst beispielsweise den Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Parks und Gebäuden über abgesenkte Bürgersteige, erreichbare Theken und Wasserhähne bis hin zu technischen Bedienhilfen.

Bestehende Schranken müssen beseitigt werden

Dabei verfolgt der ADA eine evolutionäre Strategie. Bestehende Schranken müssen beseitigt werden, soweit es finanziell und technisch machbar erscheint. Neue Gebäude und Einrichtungen müssen dagegen von Anfang an behindertengerecht geplant werden.

Die New Yorkerin Ronnie Raymond hat am eigenen Leib erlebt, wie in ihrer Umgebung seit der Gesetzesänderung immer mehr Barrieren verschwanden. Früher habe sie niemanden mit einem Rollstuhl im Bus gesehen, erinnert sich die an multipler Sklerose erkrankte Frau in einem Gespräch dem renommierten „Christian Science Monitor“. Der Grund liegt für sie auf der Hand. „Die meisten haben es nicht einmal bis zur Bushaltestelle geschafft.“

Das ist heute anders. In Manhattan sind die Bürgersteige fast überall so abgesenkt, dass Rollstuhlfahrer über die Straße kommen. Jede fünfte Subway-Station ist behindertengerecht nachgerüstet, und es gibt 5700 Busse, die auf Personen mit besonderen Bedürfnissen eingestellt sind.

Nicht alles ging reibungslos über die Bühne. Wie andere Bürgerrechte musste vieles erst vor Gericht erstritten werden. Aber die Gesetze IDEA und ADA lieferten eine Basis für erfolgreiche Klagen, die Amerika bei den Rechten für Behinderte ganz nach vorn katapultiert haben.

Oftmals falsche Klischees

Die größte Barriere bleibt der Zugang zum Arbeitsmarkt. Zwei Studien der Cornell University und der Princeton University zeigen, dass potenzielle Arbeitgeber Behinderte oft genug als „teuer“ und „wenig kompetent“ wahrnehmen. Was erklären mag, warum 2014 nach einer Statistik des National Bureau of Labor Statistics nur 17,1 Prozent aller behinderten Amerikaner einen Job hatten.

„Wir haben hier bisher nicht viel bewegt“, klagt Gary Arnold von der Behinderten-Lobby Access Living. Nichts von dem, was versucht worden sei, habe funktioniert. Arnold macht für die fehlende Inklusion am Arbeitsplatz festsitzende Stereotype verantwortlich. „Historisch werden Menschen mit einer Behinderung als Leute gesehen, die nicht arbeiten.“

Wie falsch dieses Klischee ist, zeigen in den USA erfolgreiche Karrieren wie die des teilgelähmten Präsidenten Franklin D. Roosevelt, des mit Dyslexie diagnostizierten Gründers und Philanthropen Bill Gates oder des Finanzmagnaten Charles Schwab.

„Ein Gesetz kann eine Menge bewegen“, meint Lennard Davis von der University of Illinois in Chicago, der ein Buch über die Geschichte der Entwicklung der Behindertenrechte in den USA geschrieben hat (Enabling Acts: The Hidden Story of How the Americans with Disabilities Act Gave the Largest U.S. Minority Its Rights). Wichtiger aber noch sei, „dass die Menschen ihreHerzen öffnen und ihre Einstellungen verändern“. An diesem Ende gebe es in den USA noch eine Menge zu tun.