Schlafzimmerszene: Iestyn Davies (Ottone, links), Gianluca Buratto (Claudio), Elsa Benoit (Poppea) und Franco Fagioli (Nerone) Foto: Wilfried Hösl

Bei den Münchner Opernfestspielen hat der Regisseur Barrie Kosky Händel inszeniert. Seine „Agrippina“ bringt Tragödie und Komödie auf geniale Weise zusammen.

München - Von Anfang an ist alles da und alles klar. Der Dirigent Ivor Bolton, beim Bayerischen Staatsorchester seit Jahrzehnten zuständig für die historisch korrekte Aufbereitung älterer Musik, treibt die einleitende Sinfonia von Händels erster Erfolgsoper mit enorm straffem Tempo (und nur wenigen Präzisionseinbußen) voran, und auf der Bühne, vor einem drehbaren, multifunktionalen, später in Einzelteile zerlegten Gebäudequader mit langer Außentreppe, steht die Titelheldin, einen Brief in der Hand. Alice Coote singt – nein, sie verkörpert Agrippina, so wie Händel und sein Librettist die Gemahlin des Kaisers Claudius sahen: machtbesessen, kalt, berechnend. Der Gatte, liest Agrippina, soll tot sein. Und schon beginnt ihr böses Ränkespiel.

Der Weg bis hin zum Schluss, an dem Agrippina – hier zu Klängen eines angefügten langsamen Satzes aus dem Oratorium „L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato“ – einsam, ratlos und alleine auf der Bühne zurückbleibt, dauert fast dreieinhalb Stunden. Sie vergehen wie im Flug: mit so interessanter, glaubwürdiger Psychologie hat der Regisseur Barrie Kosky die Figuren entwickelt; so spannend wirkt hier die Handlung, die ein Konzentrat ist, ein Kammerspiel, für das die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst ein kühles Ambiente als Reibungsfläche schuf; so vielfarbig und vielgestaltig spielt das Bayerische Staatsorchester, das rund um einen historisch besetzten Continuo-Kern (mitsamt einer Harfenistin, die auch mal die Kastagnetten klappern lässt) drapiert ist, und so exzellent sind die Gesangspartien besetzt.

Dreh- und Angelpunkt ist Alice Coote in der Titelpartie

Alice Coote, eine Sängerin mit großer Strahlkraft, voller reicher Facetten in Stimme und Gestaltung, ist das Zentrum. Neben ihr beweist der argentinische Counter-Star Franco Fagioli, dass er mit seiner hell timbrierten Stimme nicht nur virtuos Koloraturen in den Raum schleudern, sondern auch einen komplexen Charakter zeichnen kann. Sein Nerone ist ein unsicherer, verwirrter Post-Pubertist im schwarzen Sweater, mit Tatoo und Piercings, der zugleich erotisch aufgeheizt und verklemmt ist, vor allem aber von seiner Mutter in jeder Hinsicht missbraucht wird. Im Finale des dritten Aktes bekommt Nerone die Krone, die seine Mutter für ihn erkämpfte, aber er trägt sie, als wenn sie aus Dornen bestünde.

Ein grandioses Rollenporträt der einzigen Figur im Stück, die ganz bei sich, ehrlich und wahrhaftig ist und deshalb auch nicht wie die anderen ständig zwischen öffentlichem Statement und heimlichem Beiseite-Sprechen wechselt, liefert der Countertenor Iestyn Davies als Ottone. Elsa Benoit gibt mit Bravour und großer Sicherheit die zweite Frau: Poppea, die im Laufe des Abends zunehmend an Bedeutung gewinnt – bis hin zu einem von ihr genial eingefädelten Tête-à-Tête mit drei Männern im Schlafzimmer. Hier lässt der Regisseur Witz und Ironie triumphieren, die (vor allem vonseiten des Librettos) ebenfalls in „Agrippina“ stecken. Wie Kosky außerdem die kleineren Partien der auf über lustige Weise opportunistischen Höflinge ausinszeniert: köstlich! Das Meisterstück der Inszenierung indes ist, dass sie die Gegensätze in der Balance hält. Elemente von Komödie und Tragödie wechseln sich oft ab, aber die stärksten Momente sind jene, in denen Ironie entsteht, weil beides gleichzeitig da ist – wie zum Beispiel in jener Szene, in der Nerone, unsicher, wie man sich als Herrscher zu benehmen habe, Almosen ausgerechnet in den vorderen Zuschauerreihen des Prinzregententheaters verteilt und zum Gelächter des Publikums salbungsvoll verkündet: „Wie gerne würde ich an eurer Stelle arm sein!“

Ironie entsteht auch durch die Reibung von Text und Klängen. Händels Musik lacht nämlich nicht. Sie nimmt alles ernst, und sie richtet niemanden. Auch deshalb steht die Frage, was nun eigentlich Wahrheit ist, wem und was man inmitten der vielen Intrigen und Behauptungen überhaupt glauben kann, am Ende ebenso einsam im Raum wie die Titelheldin. Agrippina hat schon in ihrer großen Soloszene „Pensieri, voi mi tormentate“ – übrigens eine der wenigen Nummern im Stück, in denen Händel nicht auf bereits vorhandenes Material zurückgriff – erfahren, dass sie ihrem Gewissen (hier dargestellt durch eine Oboe, die sich um ihre Gesangslinien herum windet) nicht entkommen kann. Die Frage nach der Wahrheit ist jeden Tag neu zu beantworten, nicht nur in den auf schreckliche Weise über die Jahrhunderte gleich gebliebenen machtpolitischen Ränkespielen.