Einmal im Monat ziehen Friseure des Clubs Rockerwesten an und besuchen Heime für Wohnungslose, um den Besuchern unentgeltlich die Haare zu schneiden. Foto: dpa

Mehr als 50 Friseure haben sich zusammengetan, um Armen und Obdachlosen einmal im Monat gratis die Haare zu schneiden – auf eigene Kosten. Zuletzt waren die Mitglieder der „Barber Angels Brotherhood“ in Stuttgart im Einsatz.

Stuttgart - Thomas Lipp hat erlebt, dass der Weg nach unten wie eine Rutschbahn sein kann. Jobverlust, Scheidung, Wohnung weg, Hartz IV. „Das ging alles so schnell und dann bekam ich auch noch Stimmbandkrebs“, sagt der gelernte Schlosser. Seine langen Haare sind verfilzt, der Bart wuchert. „Einen Friseur habe ich mir zuletzt vor eineinhalb Jahren geleistet.“ Blicke in den Spiegel hat der 58-Jährige in letzter Zeit meist vermieden. Das ändert sich an einem Tag in Stuttgart, den er so schnell wohl nicht vergessen wird - bei Friseuren, die Obdachlosen gratis die Haare schneiden.

Anders als Thomas Lipp kann sich Claus Niedermaier (55) ein Leben ohne Spiegel gar nicht vorstellen. Schon in der Lehre, später dann in London, Paris und Los Angeles, wo er bei edlen Coiffeuren Reiche und Schöne frisierte, begleiteten sie ihn. Unzähligen Kunden habe er schon den Spiegel vorgehalten, sagt „Figaro Claus“, der seit 1992 im heimischen Biberach in Baden-Württemberg seinen eigenen Salon betreibt. „Doch die stärksten emotionalen Reaktionen erlebe ich bei unseren Einsätzen für Obdachlose.“

„Achtung! Tolle Aktion!“, steht auf dem gelben Zettel an der Tür der „Olga 46“, der Caritas-Tagesstätte für Wohnungslose in der Stuttgarter Olgastraße 46. „Friseure der Barber Angels kommen, um Euch kostenlos eine neue Frisur zu zaubern. Hier sind Profis am Werk.“

Aktion soll keine Eintagsfliege sein

Alle sind willkommen, der Andrang ist groß. Jeder Platz im Speiseraum der „Olga 46“ ist besetzt, genau wie der Clubraum eine Etage höher. „Ich weiß gar nicht mehr, was ich zuletzt für einen Schnitt hatte“, sagt eine grauhaarige Frau. Ihr zotteliger schwarzer Hund bellt aufgeregt, als Claus Niedermaier und neun weitere Friseure - acht davon Frauen - ihre Ausrüstung auspacken. „Ich nehme einen Vorratsschnitt“, sagt ein Mann mit strähnigen langen Haaren. „Wer weiß, wann so eine Gelegenheit wiederkommt.“

„Keine Angst“, sagt Niedermaier. „Das wird hier keine Eintagsfliege, wir kommen wieder.“ Professionelle Friseure reisen auf eigene Kosten in deutsche Städte, um Obdachlosen und anderen armen Menschen gratis die Haare zu schneiden. Nicht einfach mal fix runter damit, sondern so, als hätten sie Kunden mit höchsten Ansprüchen auf dem Stuhl.

„Wir wollen Bedürftigen mit unserer Arbeit helfen“, sagt Niedermaier. „Aber wir behandeln sie selbstverständlich genauso wie Kunden, die viel Geld für ein professionelles Hairstyling hinlegen, wir nennen sie „unsere Gäste“.“ Freilich ist die Arbeit mit diesen Gästen ein wenig anders. Fettige Haare und verfilzte Strähnen sind nicht selten. Manche haben Ekzeme, einer kommt mit einer kaum verheilten Platzwunde an der Stirn.

Friseure in Lederwesten

Die Frauen und Männer um „Figaro Claus“ tun, als ob sie nichts dergleichen merken. Anfangs liegt Spannung in der Luft. Doch bald kommen Gespräche in Gang. Es wird gelacht. Wahrscheinlich trägt das Outfit der Friseure dazu bei, die Stimmung aufzulockern. Sie tragen schwarze Lederwesten wie Rocker - wenngleich sie nichts mit einem Motorradclub zu tun haben. Auf den Westen prangt das Clublogo „Barber Angels Brotherhood“, die Bruderschaft der Friseur-Engel. Die „Engel mit den Scherenhänden“ hat sie jemand bei einem ihrer ersten Einsätze Ende 2016 genannt.

„Dass wir uns als Club organisieren, gibt dem Ganzen eine spaßige Note“, sagt Niedermaier. „So kommen wir auch leichter ins Gespräch. Was wir dann allerdings manchmal für Lebensgeschichten zu hören bekommen, das ist schwer zu ertragen. Da fließen auch bei uns schon mal Tränen.“

Es war ein nasskalter Abend im November 2016, als Niedermaier es sich zu Hause mit einem Glas Rotwein gemütlich machte. Im Fernsehen lief eine Reportage über Obdachlose in München, die sich bei Minusgraden mit Hilfe der Heilsarmee durchschlugen. „Das hat mich berührt“, sagt der Friseur, zu dessen Kunden auch bekannte Schauspieler gehören. „Ich dachte: Mit meinem Beruf kann ich doch etwas tun, um diesen Menschen ein Stück Würde wiederzugeben, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Das Äußere ist doch heutzutage ungemein wichtig. Gerade, wenn man noch versucht, irgendwo einen Job zu bekommen.“

Mitglieder gesucht

Figaro Claus rief Kollegen an, viele sagten spontan zu, wie er erzählt. Heute machen deutschlandweit mehr als 50 Friseure bei den „Barber Angels“ mit. Einmal im Monat, jeweils montags, kommen sie mit ihren Scheren in Heime für Wohnungslose und andere arme Menschen.

„Das ist wunderbar“, sagt Kai Koch, Sozialarbeiter beim Caritasverband und Betreuer in der „Olga 46“. „Vor einigen Jahren hatten wir bei der Friseurinnung angefragt, ob sie Arme gratis schneiden würden. Damals hieß es noch, das wäre geschäftsschädigend.“ Dank der „Barber Angels“ hat sich das nun geändert.

„Aber wir brauchen mehr Mitglieder. Hunderte, das wäre gut“, sagt Niedermaier, während er Thomas Lipp zum Abschluss die Haare aus den Ohrmuscheln fräst. Dann kommt der Moment mit dem Spiegel. Lipp schaut kurz, als würde er einen Fremden vor sich haben. Dann strahlt er. „Siehst ja aus wie der Bogart in „Casablanca““, scherzt einer. Die Gäste der „Barber Angels“ bekommen zum Abschied „Goodie Bags“ mit ein paar Kosmetika, gesponsert von der Industrie. Neuerdings steckt in den Geschenktüten auch immer ein Taschenspiegel.