Spurensicherung nach dem Anschlag auf dem Altbacher Friedhof im Juni 2023. Foto: dpa

Zwei Jahre nach dem Handgranaten-Angriff in Altbach hakt die Staatsanwaltschaft den Fall eines flüchtenden Beamten ab.

Die Dienstwaffe ziehen - oder nicht? Einen Schuss abgeben – oder nicht? Drei tödlich getroffene Tatverdächtige binnen drei Wochen haben Debatten um Polizeieinsätze in der Region Stuttgart ausgelöst. Allerdings gibt es auch in umgekehrten Fällen Kritik: Machen sich Polizeibeamte, die von einem Tatort flüchten, einer unterlassenen Hilfeleistung schuldig? Die Frage um die Flucht eines Polizisten nach dem Handgranaten-Anschlag auf dem Friedhof in Altbach (Kreis Esslingen) wird zwei Jahre später nunmehr von der Staatsanwaltschaft beantwortet. Es werde keine Ermittlungen dazu geben, heißt es auf Anfrage unserer Zeitung.

 

Der 9. Juni 2023 gilt als der traurige Höhepunkt des brutalen Konflikts zweier rivalisierender multiethnischer Gruppierungen, im Kern aus der einstigen kurdisch geprägten Straßengang Red Legion erwachsen. An jenem Tag wird auf dem Friedhof ein 20-Jähriger beigesetzt, der zu der sogenannten Esslingen/Plochingen/Ludwigsburg-Gruppe zählte – und die erscheint mit weiteren Freunden und Bekannten zu Hunderten. Ein 23-Jähriger, der zur verfeindeten Zuffenhausen/Göppingen-Gruppe zählt, sucht mit einem Taxi den Friedhof auf – und wirft eine Handgranate. Der Sprengkörper prallt indes an einem Baum ab, wie durch ein Wunder gibt es lediglich 15 Verletzte.

Anschlag unter den Augen der Polizei

Die weitere Besonderheit: Die Szenerie wird die ganze Zeit von Zivilbeamten der Polizei beobachtet. Und einer der Beamten ist unmittelbar am Tatort, als eine wütende Meute den flüchtenden Attentäter verfolgt. Der Polizist rennt davon – und wenig später fallen 20 bis 30 Trauergäste über den 23-Jährigen her. Mit Schlägen, Tritten und Sprüngen ins Gesicht. Erst wenig später eintreffende Polizeistreife stoppt mit gezogener Pistole die Meute, die dem bereits Schwerverletzten offenbar den Rest geben will. „Wir hatten Mühe, die zurückzuhalten“, sagt der Streifenpolizist mit 33 Jahren Erfahrung auf der Straße später vor Gericht.

Erster Prozess um Angriffe auf den flüchtenden Handgranatenwerfer im Dezember 2023. Foto: dpa

Hätte auch der erste Zivilbeamte mit seiner Waffe den Pulk aufhalten können? Hätten die Stuttgarter Observationskräfte besser und schneller kommunizieren müssen, als die Streifenkollegen aus Esslingen alarmiert wurden? Die Strafverfolger haben geprüft und nunmehr entschieden: „Die Staatsanwaltschaft hat mangels Anfangsverdachts einer Straftat von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Polizeibeamte abgesehen“, sagt Sprecherin Stefanie Ruben.

Urteile werden vom BGH kassiert

Die Justiz ist freilich auch so bis heute mit dem Handgranaten-Anschlag von Altbach beschäftigt. Der Attentäter ist mit zwölf Jahren Haft zwar rechtskräftig verurteilt, seine mutmaßlichen Peiniger aber nicht alle. Die 4. Strafkammer des Stuttgarter Landgerichts unter dem Vorsitzenden Richter Hans-Peter Schöttler absolvierte am Mittwoch den achten Verhandlungstag gegen fünf Angeklagte im Alter von 21 bis 24 Jahren, die unter den Prüglern gewesen sein sollen, die den Handgranatenwerfer lebensgefährlich verletzt haben sollen. Es ist insgesamt der vierte Prozess gegen beschuldigte gewalttätige Trauergäste.

Aber auch nicht der letzte. Richter Schöttler händigte am Mittwoch den Prozessbeteiligten die 13-seitige Begründung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus, der ein Urteil seiner Kammer in einem Parallelverfahren kassiert hat. Ein Angeklagter, der nächste Woche seinen 22. Geburtstag feiert, war im April 2024 von der 4. Kammer zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt worden – und wird wegen zweier Rechtsfehler noch einmal vor Gericht erscheinen. Unter anderem hatte die Staatsanwaltschaft erfolgreich moniert, dass die 4. Kammer nicht auf einen versuchten Totschlag, sondern rechtsfehlerhaft auf gefährliche Körperverletzung erkannte. Die Frage der Mittäterschaft wird nun auch Richter Schöttlers aktuellen Prozess gegen das Quintett beeinflussen.

Ein junger Mann als alter Bekannter

Auf den bald 22-Jährigen wartet derweil noch ein Urteil in anderer Sache: Er soll im März 2023 in Zuffenhausen an Schüssen auf ein Führungsmitglied der verfeindeten Gruppierung beteiligt gewesen sein. Der 34-Jährige sitzt seither im Rollstuhl. Die 14. Strafkammer hatte hierzu seit Oktober 2024 verhandelt. Die Staatsanwaltschaft fordert für den jungen Mann eine Jugendstrafe von acht Jahren Haft.

Ein weiterer Revisionsprozess um das Handgranaten-Attentat wird Anfang August bei der 19. Strafkammer beginnen. Im Urteil gegen einen 28-Jährigen, der wegen des Angriffs auf den Handgranatenwerfer von der 1. Strafkammer zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war, hatte der BGH einen „Wertungsfehler“ gefunden. Die Stuttgarter Richter hätten in ihrem Urteil vom Juli 2024 nicht ausreichend geprüft, ob hier auch nur ein minderschwerer Fall vorliegen könnte.