Begeisterung ohne Grenzen: Stuttgarter tanzen auf dem Marktplatz unter Anleitung von Eric Gauthier, der für sein Festival „Colours“ wirbt. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Tanz boomt in Stuttgart, die Aufführungen des Stuttgarter Balletts, aber auch von Gauthier Dance sind bestens besucht. Veranstaltungen wie „Colours“, das am Donnerstag startet, und „Ballett im Park“ am Samstag und Sonntag begeistern das Publikum.

Stuttgart - Geht das? Halb Stuttgart zum Tanzen zu bringen? Vor einigen Jahren hätte ein Projekt, das unbeteiligte Passanten hier in großer Zahl zum Mittanzen animieren will, nur Kopfschütteln geerntet. Doch inzwischen ist in Stuttgart niemand mehr verblüfft, wenn ihm auf offener Straße ein Blitz-Tanz-Workshop geboten wird. So geschehen jüngst auf dem Marktplatz, als Eric Gauthier Lust auf sein an diesem Donnerstag beginnendes Tanz-Festival Colours machte.

Zu besichtigen ist das tanzbegeisterte Stuttgart am Wochenende auch auf der Rasenfläche am Eckensee. Rund 7000 Zuschauer erwartet das Stuttgarter Ballett im Idealfall, wenn am Samstag „Don Quijote“ live aus dem Opernhaus übertragen wird. 2007 wurde „Ballett im Park“ erstmals erprobt, damals war das Stuttgarter Ballett die erste deutsche Kompanie, die eine Vorstellung open air übertrug. In seinem zehnten Jahr steht der Umsonst-und-Draußen-Ballettabend nicht nur für ein Jubiläum, sondern ist sichtbares Symbol für die Verbundenheit von Ballett und Publikum.

Die Vorstellungen sind so gut wie ausverkauft

Fragt man bei den Tänzern nach, was sie am Stuttgarter Ballett schätzen, nennen alle die tolle Unterstützung durch das Publikum in einem Atemzug mit dem vielseitigen Repertoire und der Zusammenarbeit mit renommierten Choreografen. Dieser Zuspruch der Zuschauer sorgt dafür, dass die Vorstellungen des Stuttgarter Balletts seit Jahrzehnten so gut wie ausverkauft sind. Ende Juni lag die Auslastung in dieser Saison bei 98,5 Prozent. Der Allzeit-Topwert von 99,4 Prozent fällt in die Zeit von Marcia Haydée, die sich während ihrer zwanzigjährigen Intendanz (1976-1996) über eine durchschnittliche Auslastung von 95 Prozent freuen durfte. Ihr Nachfolger Reid Anderson kann mit einem ähnlich guten Wert von bisher knapp 94 Prozent punkten.

„Das Stuttgarter Ballett hat eine ganz außergewöhnliche Performance“, fasst Marc-Oliver Hendriksden Erfolg der Kompanie zusammen, als Geschäftsführender Intendant ist er für die Zahlen der Stuttgarter Staatstheater zuständig. Und die des Stuttgarter Balletts lassen sein Herz höher schlagen - nicht nur, wenn er sie mit den Sparten Schauspiel und Oper im eigenen Haus misst. Auch der Blick auf vergleichbare Theater in Deutschland zeigt für ihn die „solitäre Situation“ des Stuttgarter Balletts. „Normalerweise dominiert die Oper“, sagt er. Dass das Ballett eine so herausragende Position einnehme, sei außergewöhnlich.

Das Ballett ist auch ein wirtschaftlicher Faktor

Schaut man auf andere Kompanien, die in Repertoire und Größe mit dem Stuttgarter Ballett vergleichbar sind, bestätigt sich der Ruf Stuttgarts als Ballettstadt. Das Berliner Staatsballett etwa beendete die vergangene Saison mit einer Auslastung von 77 Prozent. Das Bayerische Staatsballett, das in München mit knapp hundert Vorstellungen etwas weniger häufig auftritt als die Stuttgarter mit rund 110 Vorstellungen (davon 80 im Opernhaus), kommt mit 95 Prozent in der aktuellen Spielzeit zwar auf eine ähnlich hohe Auslastung wie die Stuttgarter. Doch nimmt man die Zahlen der Fans, die dem Stuttgarter Ballett auf Facebook folgen, sieht man den Rückhalt, den die Tänzer genießen: 11 361 Abonnenten in München stehen 17.753 in Stuttgart gegenüber. Mit 9225 Followern liegen die Stuttgarter auch beim Kurznachrichtendienst Twitter vorn, 2095 verfolgen auf diesem Weg das Bayerische Staatsballett.

Marc-Oliver Hendriks freut sich über die positive Bilanz auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht: „Erstmalig werden die erwarteten Einnahmen in dieser Saison weit über 5 Millionen Euro liegen. Das Stuttgarter Ballett ist ein enormer wirtschaftlicher Faktor“, sagt der Geschäftsführende Intendant. Damit tragen die Tänzer überproportional zum Erfolg der Staatstheater bei.

Mehr Ballett? Das Stuttgarter Publikum würde sicherlich nicht nein sagen. „Wenn ich morgens ins Opernhaus gehe, sehe ich immer wieder Schlangen vor dem Kassen-Shop in der Theaterpassage“, freut sich Intendant Reid Anderson über die Treue der Ballettfreunde, die bei begehrten Vorstellungen wie „Dornröschen“ oder „Krabat“ auf keinen Fall mit einer überlasteten Internetseite oder besetzten Telefonen konfrontiert sein wollen. Rund 500 Absagen pro Vorstellung müssen die Staatstheater bei den schriftlichen Bestellungen verschicken; wer anfragt, will in der Regel mehrere Karten. Und Ballettabos, mutmaßt Hendriks, würden in Stuttgart wohl nicht zurückgegeben, sondern vererbt.

Die Neugierde des Publikums ist groß

Dass das Stuttgarter Ballett für neue Produktionen überhaupt noch mit Plakaten in der Stadt wirbt, scheint da fast entbehrlich. Marc-Oliver Hendriks versteht solche Aktionen folglich gar nicht so sehr als klassisches Werbemittel, sondern verbucht sie unter dem Stichwort „strategische Markenentwicklung“. So freuen sich auch eingefleischte Ballettfans darüber, wenn sie ihren Lieblingen in Bus und Bahn begegnen und sie zum Beispiel darüber rätseln dürfen, wem der nackte Torso hinter dem blutigen Apfel gehört, mit dem im vergangenen Jahr für die Premiere von Demis Volpis neuem Handlungsballett „Salome“ geworben wurde.

Ballettfans gebe es überall, sagt Intendant Reid Anderson, „aber in Stuttgart ist alles viel herzlicher, familiärer und persönlicher“. Wichtig für seine Arbeit sei vor allem die große Neugierde des Publikums: „Dieses Interesse an Nagelneuem ist ungewöhnlich. Hier will jeder wissen, welche Tänzer, welche Choreografen im Kommen sind.“ Mit öffentlichen Proben will Reid Anderson im Neubau der John-Cranko-Schule, der 2018 seinen Betrieb aufnehmen soll, dem Publikum zusätzliche Einblicke in die Arbeit der Kompanie ermöglichen. Einer der Ballettsäle lässt sich deshalb in ein Theater für 200 Zuschauer verwandeln.

Stuttgarter Ballettfans sind treu – und auffallend mobil. Man begegnet ihnen überall dort, wo ihre „Lieblinge“ am Werk sind. Auch das macht die Ballettstadt Stuttgart aus: Sie ist bestens vernetzt. Unter Reid Anderson konnte die Kompanie die Anzahl an Direktoren, die sie hervorgebracht hat, weiter steigern. Von Gelsenkirchen bis Zürich, von Montréal bis Seoul, von Santiago de Chile bis Prag: Viele Kompanien werden von ehemaligen Stuttgarter Tänzern geleitet; sie sorgen dafür, dass der Ruf der Ballettstadt Stuttgart internationale Tragweite hat.

Das Ballett ist in den vergangenen Jahren weit gereist

Dass die John-Cranko-Schule zu den führenden Ausbildungsstätten in der Welt gehört, dass hier junge Menschen aus 15 Nationen zu Berufstänzern ausgebildet werden, dass unter den Tänzern des Stuttgarter Balletts in dieser Spielzeit 24 Nationalitäten vertreten sind - auch das trägt Stuttgart als Ballettstadt in die Welt. Wie groß das internationale Renommee der Kompanie ist, beweisen die vielen Gastspielanfragen, die aus aller Welt in Stuttgart eintreffen.

Nach Japan, China, Korea, in Städte wie Bangkok und Singapur ist das Stuttgarter Ballett in den vergangenen Jahren gereist. Bei der Annahme von Einladungen gilt für Geschäftsführer Hendriks, dass alles, was Gastspiele zusätzlich kosten, auch verdient werden müsse. Das erklärt, warum sich die Reisetätigkeit der Kompanie in den letzten Jahren auf den asiatischen Raum konzentrierte. Anfragen aus Süd- oder Nordamerika, wohin das Stuttgarter Ballett unter Marcia Haydée noch zu mehrwöchigen Tourneen aufbrach, muss das Ballett heute aus Kostengründen ablehnen. Auch wenn solche Stationen gut wären für das Image der Kompanie: Die schwarze Zahl unterm Strich geht vor.

Doch auch ohne prestigeträchtige Auftrittsorte wie New York spielt das Stuttgarter Ballett international vorne mit. „Es ist eine der zehn besten Kompanien der Welt, wir tanzen in einer Liga mit Paris, London, Moskau und New York“ ist sich Hendriks sicher. Da er das Stuttgarter Ballett immer wieder bei Reisen begleitet, kann er sich ein Bild von der Konkurrenz machen - zum Beispiel im Mai 2013, als das Stuttgarter Ballett auf Einladung des Bolschoi-Theaters nach 30 Jahren wieder in Moskau auftrat.

Überalterung ist kein Thema

Auch eine spontane, in keinster Weise repräsentative Umfrage unter Kritikerkollegen ergab, dass nicht nur eingefleischte Fans das Stuttgarter Ballett auf einem der Spitzenplätze sehen. „Von der Vielseitigkeit des Repertoires - klassisch, dramatisch, modern - liegt die Kompanie in Deutschland unbedingt vorne, weit vor München, Hamburg, Dresden, Berlin“, bestätigt eine Kollegin. Auch wenn sie das Bolschoi-Ballett für einsame Spitze hält, ergänzt sie: „Von der Attacke, von der Lebendigkeit und Hingabe, mit der an jedem Abend und in jedem Stil getanzt wird, liegt Stuttgart auch in Europa ziemlich vorne.“

Marc-Oliver Hendriks macht der Erfolg des Stuttgarter Balletts zuversichtlich. „Man spricht von einer allgemeinen Abwendung vom Theater. Das Stuttgarter Ballett beweist das Gegenteil“, sagt er. Der signifikante Unterschied, der die Ballettstadt Stuttgart ausmacht, ist die stark ausgeprägte emotionale Bindung des Publikums an seine Kompanie. Die ist eng, seit John Cranko 1961 dem Stuttgarter Ballett ein Gesicht gab und ihm mit Bühnenhits wie „Onegin“ und Stars wie Marcia Haydée, Richard Cragun, Egon Madsen und Birgit Keil ein Ballettwunder gelang.

Dass dieses Wunder keinerlei Abnutzungserscheinungen zeigt, ist das eigentliche Wunder der Ballettstadt Stuttgart. Überalterung, so Hendriks, sei beim Ballett kein Thema: „Die Durchmischung des Publikums ist phänomenal. Ich sehe junge Menschen, die aus ihrem Ballettbesuch in schicken Kleidern ein kultiges Event machen und überhaupt keine Schwellenängste haben.“

Angst vor der Zukunft muss das Stuttgarter Ballett also keine haben. Dass gerade in jüngster Zeit einige wichtige Tänzer wie Constantine Allen und Pablo von Sternenfels vielleicht mit Blick auf den 2018 anstehenden Intendantenwechsel die Kompanie verlassen haben, sorgt nur für ein winzigesWölkchen am strahlenden Stuttgarter Balletthimmel. Auch die drohende Trennung vom international gefeierten Haus-Choreografen Marco Goecke, die der neue Intendant Tamas Detrich erwägt, ist bitter, wird die Ballettstadt Stuttgart aber nicht lange erschüttern. Marc-Oliver Hendriks weiß, was ihren Ruf festigt. „Seit mehr als 50 Jahren hat das Stuttgarter Ballett eigentlich nur einen Intendanten, der heißt John Cranko und hat Stellvertreter auf Erden.“

Hier kann Stuttgart mittanzen

Draußen
Das Stuttgarter Ballett lädt an diesem Samstag , 19 Uhr, zur Übertragung von „Don Quijote“ in den Park. Am Sonntag, 11 Uhr, gehört die Leinwand den Cranko-Schülern.

Mitmachen
Der Eintritt zu „Ballett im Park“ ist frei. Moderiert wird die Veranstaltung von Sonia Santiago, die ehemalige Solistin hat wie immer eine kurze Choreografie für alle dabei.

Festival
Eric Gauthier holt vom 6. bis 23. Juli internationalen Tanz ins Theaterhaus und mit „Colours In The City“ auch in die Stadt. Erreichen will er so mehr als 38 000 Menschen.