Elisa Badenes, Constantine Allen und Ensemble in Katarzyna Kozielskas „Dark Glow“ Foto: Stuttgart Ballett

Das Stuttgarter Ballett hat unter dem Titel „Verführung!“ Stücke von Katarzyna Kozielska, Sidi Larbi Cherkaoui und Marco Goecke um Maurice Béjarts Publikumshit „Bolero“ angerichtet. Die Premiere am Freitag im Opernhaus zeigte Tänzer in Bestform sowie feine choreografische Kunst - und war vor allem eins: Verführung zum Zuschauen.

Stuttgart - Ein Ausrufezeichen steht hinter dem neuen Abend des Stuttgarter Balletts, der am Freitag im Opernhaus Premiere hatte. „Verführung!“ heißt er, und man muss der Welt schon sehr abhanden gekommen sein, um da nicht erotisches Knistern mitzudenken. Der Welt abhanden gekommen oder eine Frau sein: Katarzyna Kozielska darf nicht nur den Reigen eröffnen, der mit Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“, Marco Goeckes „Le spectre de la rose“ und Maurice Béjarts „Bolero“ drei bewährte Meisterwerke und drei Mechanismen der Verführung zeigt. Der Stuttgarter Choreografin gelingt es zudem mit ihrem neuen Stück, hinter das Thema Verführung ein Fragezeichen zu setzen und ihm eine eigene, sehr aktuelle Perspektive zu eröffnen. Was macht Menschen so leicht verführbar, will Katarzyna Kozielska wissen, so empfänglich für religiöse und politische Extremismen, aber auch für die leuchtenden Displays, mit denen digitale Medien in ihren Bann ziehen?

„Dark Glow“, dunkles Glühen, nennt Katarzyna Kozielska ihr Stück treffend. Die mittlerweile dritte Auftragsarbeit der polnischen Halbsolistin für die eigene Kompanie ist die einzige Uraufführung an diesem Abend. Bis die Choreografin aber zum kritischen Kern vordringt, der eine träge, dunkle Masse unter tief hängenden Scheinwerfern und Elisa Badenes daneben als hellwaches, nervös auf Spitze tanzendes Individuum in Konflikt bringt, vergeht zu viel Zeit. Zeit, in der drei Solisten und eine mit dreizehn Damen und drei Herren auffallend groß besetzte Gruppe das auszuleuchten versucht, was empfänglich dafür macht, dazugehören zu wollen.

Zeitgemäßes Pulsieren und Wummern

Weil „Dark Glow“ sich erst von seinem Ende her erschließt, bleibt der Anfang zu vage, diffus wie in einem Traum. Wie immer sind Kozielskas klassisch fundierte Bewegungen elegant und scharfkantig. Mutig setzt sie, die selbst viel in der Gruppe getanzt hat, auf große Szenen. Mit herausfordernden Balancen erkundet sie Fragilität, wenn sie Alicia Amatriain und Elisa Badenes in extreme Spitzenpositionen zwingt, sie kopfüber ihren Partnern Constantine Allen und Fabio Adorisio anvertraut und ihnen eine freche Gruppe von Damen gegenüberstellt. Doch der Einfallsreichtum an Bewegungen reduziert sich, bis alle zur gleichgeschalteten Masse werden – nicht nur choreografisch, auch inhaltlich ist „Dark Glow“ zu schwarzweiß gemalt. Das würde schmerzlicher ins Gewicht fallen, würden Kostüme und Musik nicht für Spannung sorgen: Thomas Lempertz bringt Farbe pastellzart ins Spiel, seine nur scheinbar artigen Blusen führen ein verblüffendes Doppelleben. Und der Brite Gabriel Prokofiev ergründet in seiner Auftragskomposition aktuelle Verführbarkeiten, indem er Streicher und Bläser in einem immer dramatischeren An- und Abschwellen gegeneinander setzt und dem Staatsorchester ein zeitgemäßes Pulsieren und Wummern entlockt, bis elektronische Klänge ganz den Ton angeben.

Mit einem frischen Blick auf Nijinskys skandalträchtigen Klassiker der Verführung darf Sidi Larbi Cherkaoui sich dem Stuttgarter Publikum nun von seiner starken Seite vorstellen. Hatte der belgische Weltreisende in Sachen Tanz mit einem neuen „Feuervogel“ vor zwei Jahren in Stuttgart nicht überzeugen können, sind seinem erstmals hier gezeigten „Faun“ alle Sympathien sicher: So unmittelbar und kreatürlich lässt er hier vor einer projizierten Waldszene zwei Wesen aufeinandertreffen, dass Nähe ganz natürlich und Verführung überflüssig wird. Pablo von Sternenfels kostet mit wohligem Räkeln die animalische Seite des Fauns aus, der yogaleicht aus dem Schlaf steigt. Hyo-Jung Kang bringt zu Weltmusikklagen, das Debussys Impressionen unterbricht, eine weibliche, zurückhaltende Perspektive ins Spiel. In weichen, kontrollierten Bewegungen lassen sie ihre Silhouetten verschmelzen, bis sie eins scheinen. Das gelingt den beiden Tänzern in so schöner Reinheit, dass die Zeit unendlich weit weg scheint, als Vladimir Malakhov und Margaret Illmann an eben dieser Stelle zu eben dieser Musik Jerome Robbins „Afternoon of a faun“ zum Schaulauf der Eitelkeiten machten.

Sehnsuchtsdialog zwischen Melodie und Rhythmus

Zur Zeitreise macht auch Marco Goecke „Verführung!“: Wie Cherkaouis „Faun“ ist seine Version von „Le spectre de la rose“ eine Verbeugung vor den Ballets Russes, beide 2009 uraufgeführt zum 100. Geburtstag von Diaghilews berühmter Kompanie, beide bringen das an vielen Orten gefeierte Jubiläum mit reichlich Verspätung doch noch nach Stuttgart. Ähnlich wie die Ballets Russes mit etlichen Skandalen das Publikum dazu verführten, Tanz in einem neuen, modernen Licht zu sehen, ist auch der Stuttgarter Hauschoreograf Marco Goecke ein Ballettrebell. Was für einer zeigt „Le spectre de la rose“ aufs schönste: Nicht eine Rose braucht’s, um den Rosengeist heraufzubeschwören, hier regnet’s Blütenblätter, in denen Adam Russell-Jones herrlich wüten darf. Nie verrät Goecke die Eleganz des Ballettkörpers, auch wenn er ihn in stroboskopisch-flackernden Bewegungen zucken lässt, auch wenn er ihn an der dramatischsten Stelle von Webers „Aufforderung zum Tanz“ zum Innehalten verdammt. Sechs Tänzer in roten Samtanzügen, Agnes Su als ganz gegenwärtige Frau, die sich den Traummann nicht romantisch herbeisehnt, sondern sich ihm in den Weg stellt: Das Verhältnis der Geschlechter denkt Goecke im Ballett neu; tänzerisch ist sein Einsatz, der sich sonst auf Arme und Oberkörper konzentriert, überraschend hoch.

Zum Schluss, zu Ravels „Bolero“, dann Verführung pur: Béjarts Sehnsuchtsdialog zwischen Melodie und Rhythmus, zwischen dem einen auf der Tanzfläche und den anderen, die an ihrem Rand lauern, bleibt mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung ein Ereignis. Friedemann Vogel kostet an diesem Abend sichtlich aus, wie Musik einen Körper zum Pulsieren bringt, wie ihm geometrisch verwinkelte Arme eine Geste zwischen Begehren und Aufbegehren geben, wie Tanz ihn zum Magneten macht, der Blicke anzieht.

Wie Ravels Musik steigerte sich auch der Beifall an diesem Abend – und war am Ende fast ein kleiner Sturm. Er galt nicht nur den Interpreten auf der Bühne, sondern auch dem Intendanten dahinter, der für „Verführung!“ Ballette klug ermöglichte, einkaufte und disponierte. So will dieser Abend vor allem Verführung zum Zuschauen sein, der bei seiner Premiere viel (Polit-)Prominenz angelockt hat – und der auch bei den folgenden Vorstellungen für ein ausverkauftes Haus sorgen wird.

Termine 7., 8., 10., 11., 14., 23., 27. und 28. Februar sowie 4. und 7. März.