Starke Männer, schwache Frauen: Probenszene aus „Endstation Sehnsucht“ mit Alicia Amatriain und Jason Reilly Foto: Ulrich Beuttenmüller

Metoo ist im Tanz angekommen. In Frankreich wurde der Choreograf Daniel Dobbels von fünf Tänzerinnen belastet, eine Premiere abgesagt. Ein Einzelfall? Für Gesprächsstoff in Stuttgart sorgt auch die Frage, wie stark Ballett Rollenklischees befördert.

Stuttgart - Jetzt ist es passiert, und keiner wundert sich. Dass die MeToo-Offenbarungen auch in der Ballettwelt ankommen, schien nur eine Frage der Zeit. Zu groß sind die Abhängigkeiten in dieser Kunstform, um nicht ausgenutzt zu werden. Die ökonomisch oft schwierige Situation der Tänzer mag da ebenso eine Rolle spielen wie die kurze Zeit, auf die sich ihre Karriere in der Regel beschränkt. So entsteht eine Grauzone, in der Machtpositionen auf der einen Seite, der Wunsch nach persönlichem Vorankommen auf der anderen Seite für eine Atmosphäre des Sillhaltens sorgen, in der sich keines der Opfer gegen Übergriffe zur Wehr setzte. Ein Kompaniewechsel schien meist die einzige Option.

In New York musste Peter Martins, langjähriger Leiter des New York City Ballet, Anfang Dezember seine Tätigkeit als Lehrer an der School of American Ballet einstellen, nachdem er in einem anonymen Brief sexueller Übergriffe bezichtigt wurde. Dass der heute 71-Jährige generell nicht zimperlich mit Schutzbefohlenen umgeht, haben mehrere Tänzer der Kompanie bezeugt.

Auch in Bezons, einer Kleinstadt in der Nähe von Paris, haben fünf Tänzerinnen mit der Tradition des Schweigens gebrochen. Der Choreograf Daniel Dobbels wurde von ihnen wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt, die Premiere seines Tanzstücks vom Théâtre Paul Eluard Ende November abgesagt. Ironischerweise hätte sein Ballett den Titel „Sur le silence du temps“ (Das Schweigen der Zeit) tragen und just den Umgang von Frauen mit Unaussprechbarem zum Thema erheben sollen. „Dieses Tanzstück versucht sich zum Dolmetscher zu machen“, notierte der Choreograf zu seinem Werk. Für die Tänzerinnen war das eine offene Provokation, sie nahmen Dobbels beim Wort und berichteten in sozialen Netzwerken von den Übergriffen des heute 70-Jährigen, die viele Jahre zurückliegen.

„Wir leben in einer Männerwelt“, sagt Katarzyna Kozielska

„Diese Ambiguität in der Beziehung zueinander ist der Filmwelt ebenso zu eigen wie den Bühnenkünsten“, kommentierte die Theaterwissenschaftlerin Hélène Marquié in der französischen Tageszeitung „Libération“ den Vorfall. Das gelte besonders für den Tanz, da die Künstler mit ihrem Körper arbeiteten und in quasi permanenter Berührung seien: „Sich mit dem Kopf zwischen den Beinen eines Kollegen zu befinden, ist für einen Tänzer eine ganz alltägliche Arbeitsituation und in keinster Weise problematisch.“ Aber das mache es auch schwierig zu beweisen, dass gerade diese Geste Unbehagen auslösen könne . . .

Unbehagen löst manches auf der Bühne auch beim einen oder anderen Zuschauer aus, wie in New York und London geführte Sexismus-Diskussionen um Ballette von Kenneth MacMillan oder Alexei Ratmansky zeigen. Ob die Kavaliershaltung des klassischen Balletts, hier die starken Männer, dort ihre zerbrechlichen Partnerinnen, bis in die Gegenwart hinein Frauenrollen produziert, die von Schwäche bestimmt sind, ist eine Frage, die vor dem Hintergrund des Weinstein-Skandals neue Dynamik gewinnt.

„Die Männer sind die Starken? Das ist doch nichts Neues. Wir leben in einer Männerwelt, nicht nur was die Kunst betrifft“, sagt Katarzyna Kozielska. Die Tänzerin des Stuttgarter Balletts hat seit einigen Jahren als eine von wenigen Frauen in der Choreografie Erfolg. „Beim Choreografieren zeige ich, was in mir steckt. Für manche Frauen ist das vielleicht nicht so einfach, da man sein Innerstes preisgibt“, erklärt sie den Frauenmangel in dieser Kunstform. Vor einer großen Kompanie stehen, Tänzer auswählen, stark auftreten, Anweisungen geben: Die zarte Polin hat damit kein Problem, und auch alle anderen kommen damit klar. „Überall begegnen mir die Tänzer mit großem Respekt, vor allem sobald die Arbeit im Ballettsaal losgeht. Dann ist es egal, ob eine Frau oder ein Mann da steht.“

Die andere Seite: Was Tänzern aberverlangt wird

Als Tänzerin hat sie in ihrer langen Karriere nie Übergriffe erlebt oder beobachtet. „Das heißt nicht, dass es das in der Tanzwelt nicht gibt. Menschen in Machtpositionen nutzen ihre Stärke aus, wenn sie so veranlagt sind“, sagt Katarzyna Kozielska. „Aber auch die Frauen treffen eine Entscheidung, wenn sie nicht nein sagen. Keine Rolle kann so wichtig sein, dass ich für sie die Souveränität über meinen Körper aufgeben würde.“

Respekt vor sich selbst, vor den Tänzern, vor der eigenen Arbeit: Für Katarzyna Kozielska ist das die Basis, um nie Grenzen zu überschreiten in Regionen, in denen sich Menschen unwohl, erniedrigt fühlen – im Zuschauerraum oder auf der Bühne. Für die Diskussion um Vergewaltigungsszenen im Ballett, wie sie Alexei Ratmanskys „Odessa“ in New York losgetreten hat, sieht sie in Stuttgart keinen Auslöser. „Es gibt für mich eine klare Linie, die im Ästhetischen bleiben muss und nicht überschritten werden darf“, sagt sie und nimmt John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ als positives Beispiel. „Diese Szene ist in ihrer Ästhetik klar weggerückt vom Realen. Trotzdem ist mir beim Zuschauen zum Heulen zumute.“ Als Choreografin sehe sie aber nicht nur die Rolle, sondern immer auch die andere Seite: das, was man Tänzern abverlangt.

Die voyeuristische Perspektive irritiert

Auf dieser anderen Seite befindet sich Alicia Amatriain; in der Rolle der Lulu oder eben als Blanche in „Endstation Sehnsucht“ muss sie Gewalt aushalten – und hat damit kein Problem. „Wir machen Kunst!“, betont die Spanierin. „Beide Rollen gehen mir immer unter die Haut. Nach der Vorstellung stehe ich lange unter der Dusche und fühle mich so, als ob ich etwas abwaschen müsste“, sagt die Tänzerin und betont: „In ‚Endstation Sehnsucht‘ erklärt diese Vergewaltigungsszene das ganze Stück, den Wahnsinn der Blanche am Ende. Aber nicht das, was auf der Bühne zu sehen ist, sollte für Diskussionen sorgen, sondern die Wirklichkeit, die Frauen bis heute erleben. Die ist nicht Kunst oder Jahrhunderte weg, die ist Realität.“

Als einer der großen Stars des Stuttgarter Balletts hat die Spanierin mit vielen Choreografen gearbeitet und tanzt als Gast in der ganzen Welt. Nie habe sie Übergriffe erlebt. Dennoch, fühlt sich die Tänzerin, die überbeweglich ist, nicht entblößt durch die extremen Körperhaltungen, die zeitgenössische Choreografen von Tänzern fordern? Schon die Frage impliziert einen voyeuristischen Blick, der Künstlerinnen wie Alicia Amatriain und Katarzyna Kozielska irritiert. „Wer kommt überhaupt mit solchen Ideen ins Theater?“, fragt die Tänzerin, „jede Art von Kunst, die wir hier machen, ist weit weg von diesem Gedanken.“ Die Choreografin sagt: „Für uns Tänzer sind das einfach Bewegungen. Ob der Zuschauer etwas anderes sieht, unterliegt nicht unserer Kontrolle.“