Strenge wird Form: Marco Goeckes „Le Chant du Rossignol“ Foto: Stuttgarter Ballett

Es ist ein Abend, der mit großen Namen lockt. Strawinsky! Cherkaoui! Eigentlich sollte er der Höhepunkt der Stuttgarter Ballettsaison werden. Doch dann kam am Freitag im Opernhaus alles ganz anders. „Strawinsky heute“ zeigt das Stuttgarter Ballett in Stücken von Marco Goecke, Demis Volpi und Sidi Larbi Cherkaoui.

Draußen hat der Sponsor des Stuttgarter Balletts viele PS aufgefahren. Drinnen im Opernhaus tat Intendant Reid Anderson alles dafür, um einen Hochglanzabend zu garantieren. Drei Choreografen hat er gebeten, Strawinsky in die Gegenwart zu holen – und was für welche. Neben den Hauschoreografen Marco Goecke und Demis Volpi nahm Anderson für „Strawinsky heute“ Sidi Larbi Cherkaoui mit ins Boot.

Ein schöner Coup: Erstmals arbeitet der Belgier, als Star der zeitgenössischen Tanzszene international begehrt, für eine deutsche Ballettkompanie. Einem wie Cherkaoui redet man auch einen „Feuervogel“ nicht aus, selbst dann nicht, wenn man schon einen im Repertoire hat: den von Uwe Scholz, der 1998 in der Ausstattung von Rosalie Premiere hatte.

Mit einem Lichtblitz auf die Bühne

Alles auf Anfang also. Dass am Ende der Titel des Abends seine Berechtigung hat, ist allein Marco Goecke zu verdanken. Er ist der Einzige, der den Tanz als ebenbürtigen Partner der Musik gegenübertreten lässt. Demis Volpi verliert ihn in der „Geschichte vom Soldaten“ vor lauter Erzählen genauso aus den Augen wie jedes Gespür für die Realitäten des 21. Jahrhunderts. Und Sidi Larbi Cherkaoui überfrachtet seinen „Feuervogel“ so mit Tänzern, Bewegungen und Effekten, dass wenig Platz ist für ein Nachdenken darüber, welche Entsprechungen dieses Märchen heute haben könnte.

Egal also, dass Goeckes „Le Chant du Rossignol“ keine Uraufführung ist, sondern nur die Neufassung eines Balletts, das 2009 in Leipzig entstanden war. Ein Lichtblitz bringt den ersten Tänzer auf die Bühne. Und Daniel Camargo ist wie die anderen neun, die ihm in kleinen und großen Gruppen folgen, mit flatternden Händen und ruckendem Kopf, mit abgewinkelten Armen und steifen Schritten ein bizarres Vogelwesen. Ihre Präzision ist berauschend; Federn braucht es bei solchen Tänzern keine, und auch keine vertrauten Formen. Als sich Heather MacIsaac und Roland Havlica zum Duett begegnen, sagt ein Rütteln und Zurückschrecken mehr als jede Hebung.

Disput zwischen Künstlichem und der Natur

Marco Goecke macht erst gar nicht den Versuch, das Märchen vom Kaiser und der Nachtigall zu erzählen. Ein Disput zwischen Künstlichem und Natur deutet sich an, auch der Kreislauf des Lebens. Und selbst wenn manche Tänzer eine Smiley-Sonne auf dem nackten Rücken tragen, bricht der Tod ins Leben wie ein Gewitter. Dass es am Ende tatsächlich vom Bühnenhimmel regnet, ist eine schöne Verbeugung vor Pina Bausch. Kurz bevor Marco Goecke die Arbeit in Leipzig aufnahm, war die Tanztheater-Ikone überraschend gestorben; ihr hat der gebürtige Wuppertaler sein Stück gewidmet.

Demis Volpi will es wissen und baut für seine „Geschichte vom Soldaten“ mit Hilfe seiner Ausstatterin eine Anordnung auf, die einen ganzen Abend füllen könnte. Koffer über und neben Koffern, Koffertürme die aus Koffern emporwachsen: Katharina Schlipf, mit der Volpi schon „Karneval der Tiere“ und „Krabat“ auf die Bühne zauberte, ist wieder eine Wunderwelt gelungen. Doch auch wenn die Koffer Verblüffendes bergen: 40 Minuten füllen sie nicht – nicht einmal den Prolog, in dem sich eine zwölfköpfige Theatergruppe umständlich für den bevorstehenden Auftritt ankleidet.

Gezündel mit pyrotechnischem Gepfeife

Als das Stück beginnt, haben sie schmucke Uniformen und zwei Koffer-Kanonen zur Zeit des Ersten Weltkriegs platziert. Später wird in anderen Koffern mit pyrotechnischem Gepfeife gezündelt. Volpi nimmt den Soldaten, der seine Geige dem Teufel für einen Koffer voller Gold überlässt, um vom Verbindenden der Kunst und vom Trennenden der Gewalt zu erzählen. Dass Krieg dabei zur putzigen Angelegenheit wird, tut weh, wenn es wie heute an allen Ecken der Welt brennt.

Was ebenfalls stört: Dass eine der führenden Ballettkompanien nur marschiert oder rumsitzt und Tischleindeckdich spielt. Die Männer exerzieren, die Frauen dekorieren? Da hilft auch nicht, dass Alicia Amatriain als verführerisch-androgyner Teufel aus einem der Koffer steigt und akrobatisch dem Soldaten erst die Geige, dann seine Kunst entschlängelt. Mut macht allein das Staatsorchester, das sich hier in kleiner Besetzung und mit aufbrausendem Schlagzeug von Strawinskys Suite jazzig inspirieren lässt – und auch den anderen beiden Stücken an diesem Abend schöne Farben erspielt.

Die zerstörerische Kraft des Feuers

Die Arbeit Sidi Larbi Cherkaouis ist in Stuttgart durch viele Gastspiele bekannt. Die Erwartungen an den Choreografen, der sich tanzend über die Natur des Menschen den Kopf zerbricht und im Dialog mit Musikern und anderen Künsten schöne Bühnenmomente schafft, ist entsprechend hoch. Doch kontemplatives Innehalten sieht sein „Feuervogel“ nicht vor; nur kurz ist die Welt in Balance, wenn die sieben Tänzerinnen auf den Schultern ihrer Partner thronen, um gleich wieder in ein unruhiges Meer von Bewegungen gestürzt zu werden, von sechs fahrbaren Spiegeln vervielfacht.

Die schöne und die zerstörerische Seite des Feuers hat Cherkaoui im Blick. Doch übertragen auf 16 Tänzer, die das Züngelnde der Flammen bis in die Fingerspitzen erfasst, wirkt das unruhig, überchoreografiert. Rachele Buriassi bringt mit roten Schleppen am Kleid das Feuer ins Spiel; am Ende, nachdem der Tanz 20 Minuten loderte, wird Jason Reilly in schwarzen Stoff verhüllt in den Block gepackt, den umgekehrte Spiegel bilden. Dazwischen: viel verwickelte Hebungen, Ballerinen, die klassisch beseelt zappeln und wie Trophäen getragen werden, Friedemann Vogel als Wassermann – und eine Ästhetik, die mit zerschnittenen Leibchen und wallendem Stoff von gestern wirkt.

Dass Cherkaoui die Federn des Feuervogels gleich en masse herabschweben lässt, sieht schön aus, bringt aber keine Rettung. Wo könnte die sein an einem Höhepunkt, der doch keiner ist? Es bleibt der Blick nach vorn und die Freude auf die nächste Tanzbegegnung, in der uns Cherkaoui wieder die Welt entdecken lässt – die des Tangos in „Milonga“, am 1., 2. und 3. Juli im Theaterhaus zu Gast. Und für die nächste Stuttgarter Saison wünscht man sich Neues von Goecke und einen Abend für Volpi, der neben dem Erzählen Platz für den Tanz bietet. „Strawinsky heute“ ist bis zum 16. Juli zu sehen. Die Vorstellungen im März sind ausverkauft; für die im Juli beginnt der Vorverkauf am 4. Mai. Kartentelefon 0711 / 20 20 90.