Das Mannheimer Ensemble tanzt „Human“ von Erion Kruja. Foto: NTM/Hans Jörg Michel

Stephan Thoss macht sich am Nationaltheater Mannheim mit drei Choreografen-Kollegen auf die Suche nach „Next Paradise“. Das Resultat ist ein schöner, aber auch verstörender Tanzabend.

Mannheim - Unsere Zeit spielt dem Tanz in die Karten wie kaum eine andere. Klimawandel, Ungleichheit, Ausgrenzung, Überbevölkerung, Pandemien, künstliche Intelligenz: die Menschheit steht vor grundlegenden Fragen. Und gerade der Tanz ist in seinem Zurückgeworfensein auf die Physis des menschlichen Körpers ein Meister im Umgang mit Existenziellem wie Angst und Tod, Liebe und Schönheit, der Fragilität des Daseins ganz allgemein.

Dass der Tanz selbst auf schwierigem Gelände nicht nur sein Bühnenpersonal, sondern auch etwas in den Zuschauern bewegt, ist derzeit am Nationaltheater Mannheim zu erleben. „Next Paradise“ heißt der Abend, für den Ballettchef Stephan Thoss drei weitere Choreografen ins Boot geholt hat, um in Zeiten von künstlicher Intelligenz über Begriffe wie Schöpfung und Verantwortung nachzudenken.

Fließend sind bei der Premiere am Samstag im Schauspielhaus die Übergänge zwischen den einzelnen Beiträgen, die der Hausherr selbst rahmt und die sich zu einem großen Ganzen fügen. Viel Applaus gibt es verdientermaßen für alle Beteiligten nach zwei auch musikalisch kurzweiligen, an Eindrücken prallen Stunden. Wie zum Beispiel der isländische Choreograf Frank Fannar Pedersen in „Verdur“ einen fast nackten Tänzer in eine riesige, transparente Kugel packt, um ihn von einem Trio in Schutzanzügen zum Leben, zum Tanzen erwecken zu lassen, spielt so intensiv auf aktuelle Beklemmungen an, dass man das untätige Zuschauen beim Vergehen dieser Kunstkreatur kaum erträgt. Lorenzo Angelini, übrigens ein Absolvent der Cranko-Schule, spielt sie bei aller Ball-Akrobatik in einer Fragilität, die anrührt.

Tänzelnde Techno-Trance

„Next Paradise“ bietet viele tolle Momente, macht aber leider nicht alles richtig. Dass Stephan Thoss zu seiner Paradies-Erkundung mit einem reinen Männerbund aufbricht, würde andernorts für Proteststürme sorgen. In Mannheim fühlt es sich an, als würde Eva ein zweites Mal vertrieben, während sie Thoss samt Adam, Apfel und Schlange zu Beginn in der für ihn typischen Beredtheit zum Tanzen bringt, während sie in der Pause an der „Apfelbar“ als Android mit mechanischen Bewegungen Obst schneiden und Messer bedrohlich aufblitzen lässt.

Eva ist dann mal weg? Da bleibt ein kleiner Beigeschmack, auch wenn so eindrucksvoll getanzt wird wie in Erion Krujas „Human“. Der Albaner war Tänzer bei Hofesh Shechter und hat dessen Vitalität im Blut, aber offensichtlich kennt er auch Sharon Eyals tänzelnde Techno-Trance und mixt aus beidem einen futuristischen Bewegungscocktail, der seine quecksilbrig glitzernden Protagonisten an der Schwelle zu einer neuen Zeit zögern lässt. Regelrecht hemdsärmelig schickt dagegen Taulant Shehu die Tänzer ins Rennen und fragt in „Silence“, was eigentlich das Menschsein ausmacht; um Gefühle geht es da, um Nähe und Empathie.

Davon ist auch in Thoss’ Finale die Rede. Nachdem er zu Beginn die Bedrohung unseres aktuellen Paradieses nicht ausgespart hat, endet seine Reise in einem kollektiven Tanz, in dieser überbordenden Lust des Miteinanders. „Us“ demonstriert das in packender Eindringlichkeit und in einer Lebendigkeit, die alle eint. Und doch gibt es individuelle Abweichungen in Kostüm und Gesten, die jedem Spielräume lässt, aber keinen ausgrenzt. Welch schöne Utopie!

Termin: 21. Februar, 1., 15. und 24. März sowie am 13. Mai