Die Tänzer Jisoo Park und Fabio Adorisio in Özkan Ayiks „Hands, be still“ Foto: Carlos Quezada

Tänzer sind wahre Gedächtniswunder. Im Nu haben sie komplexe Abläufe intus und können sie abrufen. Beim neuen Noverre-Abend zeigen 13 Bewegungskünstler im Stuttgarter Schauspielhaus, dass sie noch viel mehr können - sogar singen.

Stuttgart - Sie sind nicht zu bremsen! Und so braucht man sich am Mittwoch beim neuen Noverre-Abend nicht über das eigenwillige Outfit wundern, in dem sich mancher der 13 Choreografen im Schauspielhaus mit seinen Tänzern verneigt. Hat Sara Ezzell den esoterischen Touch ihres Duetts, das sich vor dem Weiblichen verneigt, auf sich selbst projiziert, als sie ohne Schuhe und im weiten Hemd auf die Bühne kommt?

Nein, die Amerikanerin, neue Gruppentänzerin des Stuttgarter Balletts, ist gleich selbst als Interpretin gefordert und verbeugt sich so, wie sie Robert Robinsons Solo „Out“ tanzen wird. Da ruht sie dann zu schnell pulsierenden Beats in sich, lotet mit kleinen Bewegungen ihre Mitte aus, um immer wieder in den Raum hinauszuschnellen. Das bringt sehenswert den im Titel angedeuteten Aufbruch ins Spiel - und versöhnt mit dem wabernden Ritual, das Ezzell als Choreografin unter dem provokanten Titel „Cunt“ anrichtet (so reduziert man Frauen im Englischen auf ihr Geschlechtsteil) und das Erin O’Reilly sowie Myriam Simon samt Sohn durchschreiten.

Es ist ein Abend des Gebens und Nehmens. Als Choreografen profitieren die Stuttgarter Tänzer davon, dass sie im Alltag mit vielen Meistern konfrontiert sind. Tief hängen Glühbirnen in Ruiqi Yangs „If only“, und auch die akrobatischen Hebungen, die Anges Su zirkusreif in die Arme von Fabio Adorisio katapultieren, hat vielleicht Itzik Galilis „Mono Lisa“ inspiriert. Die Konzentration aufs Wesentliche eines Hans van Manen hat David Moore in „Sugar Rush“ verinnerlicht, wie in „Solo“ wechseln sich zu Beginn gleich sechs Tänzer ab, stürzen sich in twistende Tanzlaune und ein Quadrat aus Licht. Schade, dass diesem Rausch im zweiten Teil, der Standardtänze aufgreift, die Präzision abhanden kommt.

Intensive Tanzmomente reihen sich aneinander

Aurora de Mori, Elevin des Stuttgarter Balletts, lässt für „Klimt’s Persuasion“ das Paar aus dem berühmten „Kuss“-Bild steigen und bringt Jisoo Park und Adhonay Soares da Silva in kunstvoller Harmonie zum Tanzen. Rolando d’Alesio ist einer, der als Ballettmeister viel gibt. Dass er als choreografischer Assistent viel Input bekommt, zeigt sein neuer Pas de deux „Absence“: So intensiv ist diese Begegnung zweier Menschen, dass sich Bewegung instinktiv aus Nähe ergibt, dass Kompliziertes selbstverständlich wirkt. Perfekt synchron agieren Rocio Aleman und Louis Stiens in der Distanz. Keine Frage: Mit „Absence“ wird es ebenso ein Wiedersehen geben wie mit Özkan Ayiks Duett „Hands, be still“: Eine Blende gibt erst nur den Blick frei auf ein schwebendes Beinpaar, dann purzeln Jisoo Park und Fabio Adorisio herab – der Rest ist ein feines Wunderwerk, angetrieben auch von Clug- und Goecke-Rädchen: Musikalisch, einfallsreich, nie aufdringlich virtuos reihen sich intensive Tanzmomente aneinander. Zu Höchstform lässt auch Roman Novitzky vier Tänzer auflaufen: Dass sein Stück „Cello contra bass“ heißt, seine vier befrackten Interpreten aber zu Geigenakrobatik wie tanzende Paganinis inszeniert, ist einer von vielen Gags.

Als hätten sich alle abgesprochen, gab es an diesem Abend nur eine Farbe: Rot. Alexander McGowan setzte als einziger mit „Hello, my name is Xander“ blaue Breakdance-Akzente. Zu schleifenden Beats gibt er den Mechanic-Man, wie in Trance von vier Kollegen gerahmt. Im roten Hemd ist Alessandro Navarro Barbeito sein eigener Tänzer – begleitet von Korrepetitorin Alina Godunov, die allein mit beeindruckendem Gesang die Bühne füllt. Sehnsuchtsvoll lässt Barbeito dazu die Arme schmachten, singt in „Sin titulo“ dann selbst, um frech sein Understatement mit einem Ballett minimaler Fingerzeige zu veredeln.

Zwei Männer sind gut für schwierige Hebungen

Inzwischen betreibt zwar fast jede Kompanie Nachwuchsförderung – und doch bleibt das Stuttgarter Noverre-Original für Gäste attraktiv. Dabei hätte Emrecan Tanis auch beim finnischen Nationalballett mit „I spy my little eyes“ für Aufmerksamkeit gesorgt; nun stürzen sich Angelina Zuccarini, Özkan Ayik und Adam Russell-Jones selbstlos in das powernde Trio, das Tanz aggressiv ausdeutet. International ist auch die Coolness, mit der Richard Chappell in „Haven“ Agnes Su auf Robert Robinson und Louis Stiens treffen lässt. Zwei Männer sind gut für schwierige Hebungen – und für mehr Drama.

Sie choreografieren, singen, tanzen und machen sich selbst die Musik dazu. Der neue Noverre-Abend ist Plattform für Multitalente wie Cédric Rupp. „4 for 2“ heißt sein asiatisch inspiriertes Duett für Anouk van der Weijde und Kirill Kornilov, das Oberkörper zum Tanzen bringt, Arme verwinkelt – und für das der Gruppentänzer die Musik selbst auf der Ukulele eingespielt hat.

Den großzügigen Applaus des Publikums darf man auch als Ermunterung an die jungen Choreografen verstehen, doch bitte beim nächsten Mal wieder dabeizusein. Damit der Noverre-Abend 2017 ähnlich kurzweilig gelingt und Tänzer mal von einer anderen Seite, nein von vielen anderen Seiten zeigt.