Szenen aus einem finsteren Zwischenreich: Marcos Menha (liegend) und Chidozie Nzerem in „Verwundert seyn – zu sehn“ Foto: Gert Weigelt

Alles da bis hin zum Spitzenschuh und doch ganz anders: Der Choreograf Martin Schläpfer wirft einen zeitgemäßen Blick auf das Ballett – und wird dafür nicht nur von Kritikern gefeiert. m

Ludwigsburg - Volles Haus für Martin Schläpfer und sein Ballett am Rhein bei den Schlossfestspielen am Mittwoch. Der Name des Schweizer Choreografen hat sich in den letzten Jahren als Markenzeichen etabliert. Nicht nur auf der Tanzbühne, auch im Kino (in Annette von Wangenheims Dokumentarfilm „Feuer bewahren - nicht Asche anbeten“) konnte man dem Schrittmacher jüngst beim Arbeiten und Nachdenken zuschauen.

Weil das eine bei Schläpfer immer das andere bedingt, sind seine intellektuell aufgeladenen, mit Bruchstellen und philosophischem Gehalt verminten Ballette bei Kritikern gefragt: Drei Mal in Folge wählten sie bei der Umfrage des Fachmagazins „tanz“ das Ballett am Rhein 2013, 2014 und 2015 zur Kompanie des Jahres. Das Publikum wiederum schätzt an Schläpfer, dass er als Choreograf von heute zwar einen zeitgemäßen Blick auf das Ballett wirft, aber dessen Vokabular bis hin zum Spitzenschuh nie in Frage stellt.

Das Ballett am Rhein hat eine an Schläpfers Bedürfnisse angepasste, flache Hierarchie: Jeder der 45 Tänzer ist Solist. Die beiden neuen Stücke, die der Choreograf mit zum Gastspiel ins Forum am Schlosspark brachte, zeigten dann eindrücklich, welche Tänzerpersönlichkeiten da am Werk sind. Einer von ihnen hat der Choreograf das erste Stück des Abends gewidmet: „Verwundert seyn - zu sehn“ heißt es nach einem Zitat Schopenhauers und blickt im Sinne des Philosophen verblüfft auf Szenen aus einem Leben, die erst aus der Distanz sinnhaft und schön werden - so wie der Mond, den Kesko Dekker aufgehen lässt, und der später beim Heranzoomen wüste Krater offenbart.

Verbeugung vor einem jung Verstorbenen

Dass Dekker eigentlich Hans van Manens Ausstatter ist, sieht man: Schlichte Trikots und Hosen unterstreichen die klaren Linien, die Schläpfer dem Tanz gibt. Dass der sich manchmal bis in die Fingerspitzen hinein spreizt, ist eine schöne Referenz an van Manen, dessen Repertoire das Ballett am Rhein pflegt wie keine zweite Kompanie in Deutschland. Eine Verbeugung ist dieser Reigen nächtlicher Begegnungen auch vor Schläpfers Tänzer Bogdan Nicula, der, 34 Jahre alt, vor genau einem Jahr an der Nervenkrankheit ALS gestorben ist.

Denys Proshayev begleitet aus dem Orchestergraben heraus wunderbar transparent und doch wie aus einer Zwischenwelt mit Klaviersonaten von Alexander Skrijabin und einem Walser von Franz Liszt dieses Aufeinandertreffen von Einsamen und Verlorenen. Zwei Männer, der blonde Marcos Menha und der dunkle Chidozie Nzerem, umgarnen sich: Berührungen haben Bedrohliches, Zärtliches mündet in Fausthieben. Ein innerer Monolog? Ein Manifest der Zerrissenheit? Vieles in diesem komplexen Gewebe aus Anspielungen und Bezügen bleibt unklar. Anderes ist genial einfach hingeworfen wie der Mond und die Ballerina, die das Tempo ihrer Drehungen gegen die Musik behaupten.

Zu Mozarts „Symphonie G-Moll“ zeigt Martin Schläpfer, dass er auch schön gefällig spritzige Sprünge und propre Posen wie Perlen als funkelndes Ballettcollier aufreihen kann. Das Württembergische Kammerorchester setzt festlich die Noten darunter, über dem Tanz thronen Rokoko-Kostüme wie in einem Schaufenster. Das Ausstellen wie auch das Anschauen sind die Grundmotive dieses großbesetzten Tanzfests: Hocker werden aufgestellt, Tänzer schauen Tänzern zu, Spitzenschuheleganz trifft auf barfüßige Wucht, Schläpfers Muse Marlúcia do Amaral setzt als Ballettvamp Akzente, peitscht mit Armen die Luft. Das ist so kurzweilig gedacht wie Mozarts Musik, bietet choreografisch aber selbst im Hinterfragen der Standards zu viele Standardsituationen.