Was Balbina über die Qualität aktueller Popmusik, die Rolle der Frauen und ihren Außenseiterstatus denkt, erfahren Sie in unserer Bildergalerie. Foto: Christoph Kassette Foto:  

Niemand macht Popmusik wie sie. Leider: Balbina zeigt auf ihrem berauschenden vierten Album „Punkt.“, wie gut Unterhaltung, Anspruch und Emanzipation Hand in Hand gehen können. Wenn man es denn will.

Stuttgart - Balbina ist Scheidungskind. Allein damit die Dunkelheit und die Brüche in ihrer Musik erklären zu wollen ist allerdings viel zu kurz gegriffen. Die derzeit spannendste deutsche Popkünstlerin macht vieles vermeintlich falsch, was andere vermeintlich richtig machen. Sie spielt keine langen Tourneen, sie hält sich von Preisverleihungen fern, sie setzt eher auf extravagante Mode denn auf viel Haut. Kurz: Balbina Monika Jagielska pfeift auf alle vermeintlich essenziellen Insignien der oberflächlichen, heuchlerischen und oftmals sexistischen Musikindustrie. Sie ist die Außenseiterin der deutschen Musikwelt, das Enigma mit dem stechenden Blick und den langen schwarzen Haaren. Und sie ist dennoch eine gefeierte Musikerin.

Der Rest der Welt müsste sie nur noch als solche wahrnehmen, erzählt sie mit einem Seufzen. „Ich finde es wahnsinnig schade, dass das Niveau für Pop mittlerweile so niedrig ist, dass etwas aufwendigere Musik sofort aus dem Raster fällt“, sagt die 36-Jährige. Sie sei regelrecht bedrückt von dem Umstand, dass man sie in die abgehobene Kunstecke drängen will: „Ich mache Pop, doch das Feedback war immer, dass es zu kantig oder zu sperrig dafür sei.“

Immer ein bisschen größenwahnsinnig

In den Achtzigern war das noch anders. Künstler wie David Bowie oder David Byrne wurden als Pop rezipiert. „Würden diese Künstler aus der heutigen Zeit stammen“, sagt Balbina, „würden sie niemals im Mainstream-Radio gespielt werden. Heute geht es doch nur noch um Bumsfallera-Musik.“ Das ist das genaue Gegenteil von dem, was Balbina macht. Schon vor einigen Monaten stellte sie ihr Album bei einem exklusiven Konzert vor. Nicht in einer ordinären Konzerthalle. Sondern in der Elbphilharmonie. Dann folgte ein Auftritt im Berliner Admiralspalast. Verknappung bei gleichzeitiger Monumentalisierung: Am liebsten tritt Balbina mit dem Filmorchester Babelsberg auf. Mag größenwahnsinnig klingen, passt aber zu der theatralischen Musik, die sie insbesondere auf ihrem Album „Punkt.“ mit Hang zum Bombast inszeniert: „Meine Musik ist sehr aufwendig produziert, das lässt sich in kleinen Clubs leider nicht reproduzieren.“ In einer Zeit, in der jeder deutschsprachige Popkünstler so viel live spielt wie möglich, geht Balbina bewusst einen anderen Weg. Mal wieder.

Das liegt daran, dass sie kein Neuling mehr ist im Spiel der Industrie. „Punkt.“ ist ihr viertes Album, und sie war schon mit Herbert Grönemeyer auf Tournee: „Ich habe mir eine gewisse Gelassenheit angeeignet. Die meisten Dinge interessieren mich einfach nicht mehr.“ Es liegt auch daran, dass sie ihr Leben lang eine war, die sich nie zugehörig fühlte. Geboren 1983 in Warschau, vor dem Mauerfall der Umzug nach Berlin-Moabit, nach der Trennung der Eltern folgte sie ihrer Mutter nach Neukölln. Dort wuchs sie auf, die Augen hinter der Brille immer auf den Boden gerichtet, stets auf der Hut, oft auf der Flucht vor gemeinen Klassenkameraden. Die Flucht in die Poesie kam vor der Flucht in die Musik, das belesene Mädchen mit Brille war eine gute Zielscheibe.

In der Rolle der Außenseiterin

„Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich mal nicht als Außenseiterin gefühlt habe“, erzählt sie. „Lange habe ich darin nur mein eigenes Unvermögen gesehen. Ich hatte das Gefühl, nicht dort hinzugehören, wo ich war. Nicht dazuzugehören. Ich habe lange gebraucht, bis ich merkte, dass ich gar nicht versuchen musste, in einen bestimmten Rahmen zu passen, sondern mir meinen eigenen Rahmen schaffen musste. Man muss nicht sich verbiegen und anpassen, sondern die Umstände.“

Dieser Prozess hat sie stark gemacht, ihr das Rüstzeug für die moderne Musikindustrie an die Hand gegeben. „Meine Schulzeit war eine Tortur, aber ich habe dadurch umso mehr gelernt, mich auf das zu konzentrieren, was ich kann, was mich glücklich macht. Ich habe mir damals ein dickes Fell angeeignet. Und ohne dieses dicke Fell wäre ich längst nicht mehr in der Musikbranche.“

Im Hamsterrad der Frustration

Auch die Gründung ihres eigenen Labels Polkadot und die Abkehr vom Branchenriesen Sony gehören zu diesem Prozess. „Ich wollte nicht noch mehr mit irgendwelchen Menschen diskutieren müssen. Ich habe zwar auch damals gemacht, was ich wollte, doch ich war es leid, meine Entscheidungen über Wochen erklären und rechtfertigen zu müssen.“ Ihre Zeit bei Sony beschreibt sie als „Hamsterrad der Frustration“. Ihr Album setzt einen Punkt hinter diese Ära. Der Titel ist selbsterklärend. Für Balbina ist „Punkt.“ Neuanfang und Grenzauslotung. Ein mutiges, weil hoffnungslos nonkonformes Werk, dessen sinfonische Aura wie gemacht ist für ihren tiefen Gesang. Ihre Stimme ist ein Fanal für das Ende der Männerdomäne Musikindustrie. „Als ich in die Popmusik einstieg, waren es ausnahmslos die Typen, die den vollen Durchblick hatten. Die Megaentscheider, denen man blind vertrauen konnte. Wenn eine Frau hingegen eine klare Vision von ihrer künstlerischen Linie hatte und die auch noch durchsetzen wollte, war sie sofort die anstrengende Zicke.“

Das sei bei den großen Plattenfirmen immer noch so: „Aber es tut sich was. Weil wir mittlerweile darüber reden.“ Und weil es immer mehr weibliche Stimmen in der Musik gibt, die sich ihren eigenen Weg bahnen. Mit der Rapperin Ebow gastiert eine davon auf Balbinas Album. „Ebow hat den Heimatbegriff neu definiert“, sagt sie über die deutsche Künstlerin mit kurdischen Wurzeln, die in Wien lebt, Alevitin ist und auf deutsch rappt. Frauen wie sie, aber auch internationale Stars wie Billie Eilish haben im vergangenen Jahr viele Männerdomänen aufgelöst. Balbina und ihren Kolleginnen geht es nicht um die Errichtung eines Matriarchats. Es geht ihnen um Offenheit, um Gleichberechtigung. Deswegen ist Balbinas Cover des Rammstein-Songs „Sonne“ auch der perfekte Song für die inklusive Nike-Kampagne „Helden“ – und eine perfekte Fremdinterpretation. Balbina ist weit gekommen, ohne sich zu verbiegen. Heute hängen Plakate mit ihrem markanten Gesicht an den Berliner U-Bahnhöfen, durch die sie früher vor ihren Drangsalieren floh. Einen schöneren Lohn für all die Kämpfe kann es kaum geben. Und eine größere Motivation für Nachahmer auch nicht.

Balbinas Album „Punkt.“ (Polkadot) erscheint am 10. März