Hinter der S-Bahn steht das Stellwerk am Stuttgarter Hauptbahnhof. Foto: Max Kovalenko

Weil zeitweilig Personal im Stellwerk fehlt, ist der Zugverkehr in Mainz lahmgelegt. Das Problem droht der Deutschen Bahn bundesweit. Das zeigt ein kritischer Blick nach Stuttgart.

Stuttgart/Berlin - Das Stellwerk des Stuttgarter Hauptbahnhofs steht auf einem hohen Wall, eingekeilt zwischen Gleisvorfeld und Park. Es ist ein grober Klotz, viele Stockwerke hoch, mit brauner Metallfassade, kaum Fenstern, keiner erkennbaren Tür ins Innere. Das Stellwerk gleicht einer Festung. Erst recht in diesen Tagen.

„Keine Besichtigung, keine Besuche, keine Bilder, keine Gespräche mit Mitarbeitern!“ So lautet die Direktive der Deutschen Bahn AG. Bundesweit, nicht nur in Stuttgart. Seit die massiven Zugausfälle im Mainzer Bahnhof wegen Personalmangel bei den Fahrdienstleitern Schlagzeilen macht, seit es Krisengipfel gibt und Bahn-Chef Rüdiger Grube seinen Urlaub unterbrochen hat, mag sich keiner mehr eine Blöße geben. „Die Züge in Stuttgart fahren alle planmäßig, demnach ist im Stellwerk alles in Ordnung“, heißt es bei der Bahn lapidar. So, als wären damit alle Fragen beantwortet.

„Das stimmt nicht“, sagt Martin Herion energisch. „Die Personaldecke im Stuttgarter Stellwerk ist in Wahrheit sehr, sehr dünn und man mogelt sich mit knappem Personal gerade so durch.“ Ähnlich angespannt sei die Lage auch in anderen Bahnhöfen in Baden-Württemberg, zum Beispiel in Ulm oder in Heilbronn, berichtet der Stuttgarter Geschäftsstellenleiter der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Herion vertritt die Interessen von 8000 Eisenbahnern. Er weiß, wo die Kollegen der Schuh drückt.

Fehler können Menschenleben gefährden

„In Stuttgart ist der Stress bei der Arbeit seit zwei Jahren besonders hoch, weil sich durch das Bauprojekt Stuttgart 21 ständig Weichen und Schienenwege ändern“, sagt Herion. Fünf bis sieben Fahrdienstleiter arbeiten im Stuttgarter Stellwerk zeitgleich in einer Schicht. Sie regeln und überwachen die Fahrstrecken von täglich 650 Fern- und Regionalzügen und 650 S-Bahnen. Dazu steuern sie 100 Hauptlichtsignale, 570 Rangiersignale und 480 Weichen. Wenn der Fahrdienstleiter einen schweren Fehler macht, können – trotz automatischer Zugsicherungssysteme –, Menschenleben in Gefahr sein. Angesichts der Verantwortung ist der Job mäßig dotiert: Ein Berufsanfänger verdient nach drei Jahren Ausbildung rund 2000 Euro brutto monatlich; nach zehn Berufsjahren sind es mit Zulagen für Schicht-, Nacht-, Wochenend- und Feiertagsarbeit rund 3500 Euro.

Weil Fahrdienstleiter wegen der langen Einarbeitungsphase nicht von heute auf morgen auf ein anderes, ihnen unbekanntes Stellwerk wechseln können, sind es feste, eingeschworene Teams. Darum ist es auch nicht möglich, die durch Krankheit oder Urlaub fehlenden Fahrdienstleiter im Mainzer Bahnhof aus dem Stand heraus durch externe Fahrdienstleiter zu ersetzen. „Wenn ein Kollege krank wird oder sich anderweitig überraschend ein betrieblicher Engpass ergibt, verschieben die Kollegen aus seinem Stellwerk schon mal aus Pflichtgefühl kurzfristig ihren Urlaub oder ihren Freizeitausgleich“, weiß Gewerkschafter Herion. So hätten die rund 2000 Fahrdienstleiter in Baden-Württemberg allein im Vorjahr rund 100.000 Überstunden angehäuft. „Das macht die Kollegen mürbe, viele sind ausgepowert“, klagt Herion.

Für die Gewerkschaft ist das Fiasko in Mainz in erster Linie hausgemacht. „Dieses Problem existiert bundesweit, und geht über alle Geschäftsfelder der Deutschen Bahn“, kritisiert der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner. Bundesweit fehlten bereits 1000 Fahrdienstleiter. Engpässe gebe es aber auch bei Lokführern, Zugbegleitern oder in den Werkstätten. Die Betriebsräte hätten immer wieder vor Personalengpässen gewarnt, ohne dass dies „von den Führungskräften ernst genommen wurde“, ärgert sich Kirchner.

Rolle der Regierung wird kritisch hinterfragt

Dass die Deutsche Bahn in den nächsten Jahren auf riesige Probleme zusteuert, weil der demografische Wandel Tausende Eisenbahner in Rente oder Pension gehen werden, hat auch die Konzernführung erkannt. Das Durchschnittsalter beim Tochterunternehmen DB Netz AG, das für die Infrastruktur zuständig ist und unter anderem die Fahrdienstleiter beschäftigt, liegt laut EVG bereits bei über 50 Jahren. Im Frühjahr 2013 musste der Personalvorstand der DB Netz seinen Posten räumen.

„Vor Ort hat man bei der Bahn die drohenden Probleme bei der Personaldecke zwar gesehen, aber nichts gemacht – und auf Konzernebene wurden erst die Zeichen der Zeit nicht erkannt und dann nicht schnell genug reagiert“, fasst EVG-Mann Herion die Misere zusammen. Auch die Rolle der Bundesregierung wird jetzt, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, kritisch hinterfragt.

„Der Bund als einhundertprozentiger Eigner der Bahn hat den Konzern in den vergangenen Jahren darauf getrimmt, Gewinne abzuwerfen. Das wurde auf dem Rücken der Beschäftigten organisiert und rächt sich jetzt bitter“, sagte Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) unserer Zeitung. Darüber hinaus habe sich die Bahn zu sehr auf ihre Großprojekte konzentriert, moniert Hermann. Darüber sei „das Alltagsgeschäft vernachlässigt“ worden. Dafür trage der seit 2006 für Infrastruktur zuständige Bahn-Vorstand Volker Kefer eine „besondere Verantwortung“, betont der Minister.

Bis Ende des Jahres sollen zusätzlich 340 Fahrdienstleiter eingestellt werden

In der Berliner Zentrale der Bahn AG hält man solchen politisch aufgeladenen Interpretationen, die weit über das Mainzer Fiasko hinausreichen, wenig. Seit’ an Seit’ mit der EVG gemeinsam gegen die Bundesregierung – so will man sich nicht in der Öffentlichkeit präsentieren. Die Gewerkschaft wolle die Bahn „vor sich her treiben“, um ihr Profil vor den Betriebsratswahlen 2014 zu stärken, vermuten Kenner der Szene – und sprechen von „Klientelpolitik“.

In der Sache selbst – den fehlenden Fahrdienstleitern – redet die Bahn allerdings nicht um den heißen Brei herum. „Wir müssen in diesem Bereich flexibler werden., um Engpässe künftig besser auszugleichen“, sagt ein Bahn-Sprecher. Dazu sollen bis Ende des Jahres zusätzlich 340 Fahrdienstleiter eingestellt werden, insgesamt wären es dann 600. In Anzeigen sucht die Bahn Auszubildende, aber auch gezielt ältere Quereinsteiger. Wer eine eisenbahnspezifische Ausbildung besitzt, kann den neuen Job sogar „in 100 Tagen“ und „bei vollem Gehalt“ lernen. Seit zwei Jahren gibt es zudem eine Kooperation mit der Bundeswehr, um Ex-Soldaten als Fahrdienstleiter zu rekrutieren.

„In Baden-Württemberg und Bayern dürfte es trotzdem schwer fallen, den Nachwuchs für die Stellwerke zu finden“, ahnt Gewerkschafter Herion. Schließlich gebe es hier noch genügend Stellenangebote – für ein vergleichbares Gehalt, aber ohne Nacht- und Feiertagsarbeit und mit einem Bruchteil der individuellen Verantwortung.