Durch den Ort nur im Schneckentempo kriechen Autofahrer im Land immer öfter. Foto: dpa

Anwohner jubeln, Pendler könnten bei so mancher Fahrt vor Ärger ins Lenkrad beißen: Selbst auf Ortsdurchfahrten im Südwesten gilt immer öfter Tempo 30. Möglich macht den Schleichverkehr die grün-rote Landesregierung – und der zunehmende Wunsch nach Lärmschutz.

Anwohner jubeln, Pendler könnten bei so mancher Fahrt vor Ärger ins Lenkrad beißen: Selbst auf Ortsdurchfahrten im Südwesten gilt immer öfter Tempo 30. Möglich macht den Schleichverkehr die grün-rote Landesregierung – und der zunehmende Wunsch nach Lärmschutz.

Stuttgart - Wer nachts auf der B 27 durch Kirchheim am Neckar rollt, muss sich in Geduld üben. Die Straße ist zwar frei, die Gehsteige menschenleer. Doch schneller als mit maximal 30 Stundenkilometern darf dennoch nicht durch den kleinen Ort am Nordrand des Landkreises Ludwigsburg gefahren werden. Weil die Lärmwerte zu hoch lagen, hat das Stuttgarter Regierungspräsidium von 22 bis 6 Uhr ein Tempolimit angeordnet. Jetzt wird in Kirchheim gezuckelt statt gerast – die Anwohner freuen sich über die ungewohnte Nachtruhe.

Dass die Ortsdurchfahrt kein unbedeutender Feldweg, sondern eine ausgewachsene Bundesstraße ist, spielte für die Entscheidung der Behörde keine Rolle – ebenso wenig wie in Ditzingen oder Rechberghausen, wo nachts auch nur noch Schleichverkehr herrschen darf. Reduziert ist das Tempo neuerdings auch in Wäschenbeuren oder Herrenberg. Und das sind nur die als Fernstraße klassifizierten Strecken in der Region. Ausgebremst wird der Durchgangsverkehr inzwischen auch auf etlichen Ortsdurchfahrten, denen kein überregionale Bedeutung beigemessen wird. Stehen links und rechts der Straße ein paar Häuser, gilt im Südwesten immer öfter Tempo 30.

Für 80.000 Euro aufgestellter Blitzer

Möglich macht die Kehrtwende in der Verkehrspolitik die im März 2011 gewählte grün-rote Landesregierung. Vor wenigen Jahren noch wehrten sich Straßenverkehrsbehörden mit Händen und Füßen gegen jeden Versuch, den Durchgangsverkehr zu behindern. Die Ausweisung von Tempo-30-Zonen beschränkte sich fast ausschließlich auf Wohngebiete, mit dem Wunsch nach einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Ortsdurchfahrt bissen Bürgermeister bei den übergeordneten Ämtern regelmäßig auf Granit. Doch die Maßgabe „Freie Fahrt für den Durchgangsverkehr“ gehört in Baden-Württemberg seit dem Regierungswechsel der Vergangenheit an. Inzwischen freut sich das Stuttgarter Verkehrsministerium, dass das Land bei Tempo-30-Regelungen für innerörtliche Bundesstraßen „bundesweit an der Spitze steht“ – und empfiehlt den Straßenbehörden ausdrücklich, den rechtlichen Spielraum für Geschwindigkeitsbegrenzungen im Sinne der Anwohner zu nutzen. Schon ein Jahr nach Amtsantritt gab Ressortchef Winfried Hermann (Grüne) einen Kooperationserlass heraus, der Entscheidungsträgern aufzeigt, wo für mehr Tempolimits der Hebel angesetzt werden kann. Außerdem bemüht sich das Verkehrsministerium auch auf Bundesebene um eine Änderung des gesetzlichen Rahmens. „Noch setzt die Straßenverkehrsordnung leider sehr hohe Hürden für die Anordnung verkehrsrechtlicher Maßnahmen wie etwa Tempo 30 aus Lärmschutzgründen“, sagt Verkehrs-Staatssekretärin Gisela Splett.

Wie viele Tempo-30-Schilder in den Ortsdurchfahrten seit dem Regierungswechsel aufgestellt worden sind, kann das Land bemerkenswerterweise gar nicht sagen. „Bei 151 selbstständigen Straßenverkehrsbehörden fehlt uns eine Übersicht“, räumt Sprecherin Julia Pieper ein. Gestiegen ist die Zahl der Tempolimits jedenfalls – sei es aus Lärmschutzgründen wie in der Ortsdurchfahrt von Waiblingen-Hegnach oder wegen der Feinstaubbelastung wie in Markgröningen. In Remseck-Hochberg müssen Autofahrer wegen der Verkehrssicherheit auf die Bremse treten – der dritte Punkt, der ein Tempolimit rechtlich umsetzbar macht.

Wie schwer sich Autofahrer mit ungewohntem Zuckeltempo auf der Hauptstraße tun, zeigt ein Blick nach Ingersheim. Der nach Einführung der Tempo-30-Zone für 80.000 Euro aufgestellte Blitzer hatte sich nach einem Vierteljahr bezahlt gemacht, schon in den ersten drei Monaten erhielten 5594 in die Radarfalle getappte Fahrer eine knapp 20 Euro teure Verwarnung. Für 532 geblitzte Verkehrssünder setzte es ein Bußgeld ab 40 Euro aufwärts. Selbst Bürgermeister Volker Godel musste zugeben, dass man sich als Autofahrer bei Tempo 30 zusammenreißen muss. Die Lärmbelastung für Anwohner sei aber deutlich gesunken.

Nicht leiser geworden ist es hingegen im Ortskern von Illerkirchberg im Alb-Donau-Kreis. Aus Ärger übers reduzierte Tempo drücken etliche Autofahrer laut Bürgermeister Anton Bertele immer dann lautstark auf die Hupe, wenn sie im zweiten Gang am Rathaus vorbeirollen. Die Kommune hatte für die Nachtstunden ein Tempolimit beantragt – angeordnet wurde indes die ganztägige Reduzierung der Geschwindigkeit.