Jeder Siebte tut sich mit dem Lesen sehr schwer. Foto: dpa-Zentralbild

Jeder Siebte der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben. Mit einer neuen Kampagne will das Land Betroffenen eine Chance zum Lernen geben.

Stuttgart - Eigentlich wollte Uwe Hück am Freitag bei der Pressekonferenz des Kultusministeriums in Stuttgart selbst erklären, warum er sich als Botschafter für die Alphabetisierung engagieren will. Doch wegen einer weiteren VW-Krisensitzung in Wolfsburg musste der Betriebsratschef von Porsche und Aufsichtsrat von VW kurzfristig absagen.

An seiner Unterstützung für die neue Landeskampagne gegen den Analphabetismus wird das aber nichts ändern. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass funktionale Analphabeten, also Menschen, die aus vielerlei Gründen und Schicksalen nur schlecht lesen, schreiben oder rechnen können, nicht weniger intelligent sind“, sagt Hück. „Wir müssen sie aus der sozialen Isolation holen. Sie brauchen eine Chance, man muss ihnen Mut machen, und das führt zu Intelligenz.“ Seinen eigenen beruflichen Aufstieg verdanke er auch Menschen, die ihn als Heimkind immer wieder ermutigt hätten.

Ermutigung ist wichtig. Den allermeisten Analphabeten fällt es schwer zu bekennen, dass sie nicht richtig lesen und schreiben können. Dabei sind sie mit diesem Problem keineswegs allein: Rund 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland gelten als funktionelle Analphabeten, das sind 14 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Zu diesem Ergebnis kamen Wissenschaftler der Universität Hamburg im Jahr 2011. Viele von ihnen können zwar einzelne Wörter oder Sätze entziffern, verstehen aber Texte wie Arbeits- oder Gebrauchsanweisungen oder Beipackzettel nicht.

Eine Million Betroffene in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg betreffe dieses Problem schätzungsweise etwa eine Million Menschen im erwerbsfähigen Alter, sagte Kultusstaatssekretärin Marion von Wartenberg (SPD) am Freitag in Stuttgart. Die Zahlen beziehen sich auf Personen, die schon lange im Land leben. Flüchtlinge ohne Lese- und Schreibkenntnisse sind dabei noch nicht eingerechnet.

Etwa die Hälfte derer, die mit dem Lesen oder Schreiben größte Schwierigkeiten haben, haben einen Schulabschluss, einzelne sogar die mittlere Reife oder Abitur, sagt Wolfgang Nagel, Projektmanager für Alphabetisierung und Grundbildung an der Volkshochschule Stuttgart. Um die Beschäftigungschancen von Menschen mit geringer Qualifikation zu verbessern und ihr Risiko, arbeitslos zu werden, zu senken, startet das Kultusministerium eine neue Kampagne. Zum einen soll die Zahl der Lernangebote und Kurse für Menschen mit Lese- und Schreibproblemen deutlich erhöht werden. Ein zweites Ziel der Landesregierung ist, dass sich auch die Arbeitgeber stärker in der Grundbildung engagieren. Immerhin sind 60 Prozent der Betroffenen berufstätig – viele in einfachen Positionen in der Industrie und im Handwerk, in der Gastronomie oder auch in der Pflege.

„Angst vor Stigmatisierung nehmen“

„Gemeinsam wollen wir erreichen, dass Menschen ihre Ängste überwinden und besser schreiben, lesen und rechnen lernen“, sagte von Wartenberg. Auch die Unternehmen profitierten davon, wenn sich ihre Beschäftigten qualifizierten, sagte von Wartenberg. Schließlich könnten mangelnde Lesekenntnisse große Fehler und Kosten verursachen. Anreize könnten die Unternehmen durch zusätzliche Angebote geben, etwa das Erlernen der Fachsprache oder den Erwerb eines Maschinenführerscheins. Damit das gelinge, müsse den Betroffenen allerdings „die Angst vor einer Stigmatisierung“ genommen werden. Das funktioniere am besten, wenn Vertrauensleute in den Unternehmen ihre Kollegen ansprechen und ihnen passende Kurse anbieten – möglichst im Unternehmen selbst und während der Arbeitszeit. Kleinere Betriebe sollten gemeinsame Angebote planen. Erste Erfahrungen gibt es bereits. So bildet der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Mentoren aus, die sich in ihren Betrieben für die Grundbildung stark machen und Kollegen mit Schwierigkeiten dabei unterstützen, den richtigen Bildungsweg zu finden.

Unterstützung für alle Beteiligten soll eine neue Zentralstelle bieten, die beim Volkshochschulverband angesiedelt ist. Zu ihren Aufgaben zählt, die Weiterbildungsträger miteinander zu vernetzen und in ihrer Arbeit zu unterstützen. Sie soll auch die Öffentlichkeit für das Tabu-Thema sensibilisieren, damit Betroffene angesprochen und ihnen konkrete Angebote gemacht werden können. Die Zugänge zu den Bildungsangeboten sollten vereinfacht und Hemmschwellen abgebaut werden, sagt Hermann Huba, Direktor des Volkshochschulverbandes.

Für die Kampagne stehen rund 1,2 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds zur Verfügung.