Barfußpflicht: Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid vor der Shwedagon-Pagode in Yangon, dem Heiligtum der Buddhisten. Foto: Hägele

62 Myanmarer leben in Baden-Württemberg. Der Warenaustausch ist gering. Trotzdem fährt der Wirtschafts- und Finanzminister mit großer Delegation nach Myanmar? Er muss Gründe haben.

62 Myanmarer leben in Baden-Württemberg. Der Warenaustausch ist gering. Trotzdem fährt der Wirtschafts- und Finanzminister mit großer Delegation nach Myanmar? Er muss Gründe haben.

Yangon - Eine „Pfadfinder-Tour“ nennt Jürgen Oswald, Chef von Baden-Württemberg International, die von seinem Haus organisierte, rund 40 000 Euro teure Reise. Es ist die erste einer offiziellen baden-württembergischen Delegation nach Myanmar, besser bekannt als Burma, ein Land, das jahrzehntelang unter einer von Militärs errichteten Käseglocke aus Panzerglas lebte. Doch es ist keinesfalls so, dass die Pfadfinder aus dem Südwesten, angeführt von Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid (SPD), die Ersten wären, die das südostasiatische Land neu entdecken.

In Yangon (früher Rangun), der Sechs-Millionen-Metropole im Süden des Landes, sowie in der Retorten-Hauptstadt Naypyidaw geben sich heute Delegationen aus aller Welt die Klinke in die Hand: Chinesen, Japaner, Amerikaner. Viele wollen dabei sein, wenn der nächste asiatische Tiger springt – auch die Deutschen. Neben der Delegation aus Baden-Württemberg haben sich für 2014 allein fünf Bundesländer angekündigt. Vom 9. bis 12. Februar folgt Bundespräsident Joachim Gauck. Das heißt schon was.

Nun also sind die Baden-Württemberger da, rund 50 Vertreter aus Wirtschaft, Verbänden, Hochschulen und Medien, dazu die beiden Landtagsabgeordneten Hans-Martin Haller (SPD) und Reinhard Löffler (CDU). Sie betreten ein Land, das zu den am wenigsten entwickelten Staaten der Erde zählt, seine Besucher am Flughafen in Yangon jedoch mit den Worten begrüßt: „Willkommen im goldenen Land.“ Gemeint ist das Gold seiner atemberaubenden buddhistischen Pagoden. Vor allem aber auch sein natürlicher Reichtum.

Seit zwei Jahren atmet Myanmar wieder

Tatsächlich jedoch liegen die goldenen Zeiten Myanmars oder Burmas, wie es die Briten nannten, lange zurück. Einst galt Yangon als Weltmetropole, bedeutender als Bangkok oder Singapur. 1962, im Jahre 15 seiner Unabhängigkeit, nahm das Militär das Land in den Griff und schnürte ihm im Inneren die Luft ab. Proteste wurde wiederholt blutig niedergeschlagen; die Symbolfigur des Widerstands, Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi (68), unter Hausarrest gestellt, was der Militärjunta internationale Sanktionen eintrug und den Zustand der Isolation verstärkte.

Seit zwei Jahren atmet Myanmar wieder. Die Generäle waren zu der Einsicht gelangt, dass sie das Land in eine Sackgasse manövriert hatten und starteten eine Art Revolution von oben. Als wäre alles nur ein böser Traum gewesen, wird Myanmar nun neu erfunden: Demokratie statt Diktatur, Markt- statt staatlich kontrollierte Mangelwirtschaft, Föderalismus statt Zentralstaat – und das alles mit den vorläufig selben Gesichtern. Man zieht einfach den Uniformrock aus und legt die Schalter um. Ein bemerkenswertes Stück Zeitgeschichte.

Noch dazu, weil keine Vergangenheitsbewältigung stattfindet. Die Bevölkerung scheint diese Form des Wandels zu akzeptieren und ihren Frieden mit der früheren Militärdiktatur zu machen. „Das ist der Deal“, sagt die Delegierte der deutschen Wirtschaft, Monika Stärk. Zu den beeindruckendsten Momenten der Reise zählt das Treffen mit Ko Ko Gyi (52), einem der führenden Köpfe der Studentenproteste von 1988. Gyi saß 18 Jahre im Gefängnis. Hat er keine Rachegefühle gegenüber den Militärs? Nein, sagt er. Dieses Opfer habe er für eine bessere Zukunft gebracht: „Wir können vergeben, aber nicht vergessen.“

Lange Bürgerkriegsgeschichte

Der Blick geht nach vorne. Das unterscheidet die Situation in Myanmar von der in Ostdeutschland nach dem Fall der Mauer. Ansonsten sieht der deutsche Botschafter in Yangon, Christian-Ludwig Weber-Lortsch, viele Parallelen zur Öffnung Osteuropas. Ausdrücklich lobt er die baden-württembergische Initiative. Im eigenen Interesse komme es darauf an, diesen Wachstumsmarkt frühzeitig zu erkunden und Vertrauen aufzubauen. In seinen Worten: „Use it or loose it.“

Die Landesregierung versucht das zu beherzigen. Doch klar ist: Myanmar hat einen langen Weg vor sich. „Wir sind noch am Anfang“, bekommt Schmid immer wieder zu hören. Irgendwann aber soll alles gut sein: die Infrastruktur, die Stromversorgung, das Bildungssystem, das Bankenwesen, die Rechtssicherheit.

Nicht zu vergessen das Zusammenleben der mehr als 100 verschiedenen Ethnien. Denn das Land, das dem Besucher so friedlich begegnet, hat eine lange Bürgerkriegsgeschichte. In den verschiedenen Regionen kämpften zeitweilig bis zu 20 verschiedene Rebellengruppen gegen die Zentralregierung. Viele Konflikte gelten inzwischen als befriedet, doch in der westlichen Region Rakhine halten Spannungen zwischen Buddhisten und Muslimen an, und im Norden kämpfen die christlichen Kachin um Autonomie. Der Ausgang des Friedensprozesses wird nach Ansicht von politischen Beobachtern über die Zukunft des Reformprozesses entscheiden. Auch deshalb sagt Jürgen Zoll, Wirtschaftsexperte der deutschen Botschaft: „Die Herausforderungen sind unvorstellbar groß.“

Näherinnen verdienen fast so viel wie ein Lehrer

Groß sind offenbar aber auch die Chancen. Immerhin legte die Wirtschaft zuletzt um 5,5 Prozent zu, zurückzuführen vor allem auf Öl- und Gasexporte. Das Land quillt über vor Rohstoffen; die Menschen gelten als zuverlässig; nirgendwo in Asien, so wird berichtet, haben die Frauen eine stärkere Rolle inne. Alle Weichen scheinen auf Modernität und Wachstum gestellt. „In Myanmar hängt das Obst niedrig“, erklärt Thant Myint U, Enkel des früheren UN-Generalsekretärs U Thant und einer der führenden Intellektuellen des Landes. Demnach muss man nur zugreifen.

Christian Maag zählt zu den wenigen deutschen Unternehmern, die bisher die Hand danach ausstrecken. Der Textilunternehmer aus Albstadt, Chef der Firma ESGE, ist eine Kooperation mit drei örtlichen Textilbetrieben eingegangen. Er lotet aus, ob eine Produktion in Myanmar lohnt. Seine Mitarbeiter aus Deutschland optimieren Arbeitsabläufe und Ausbildungsstrukturen. Finanziert wird dieser Wissenstransfer aus Bundesmitteln. Myanmar, sagt Maag, sei nicht Bangladesch und Kinderarbeit somit tabu. Die Wochenarbeitszeit liege bei 40 Stunden. Am Ende des Monats würden die Näherinnen zwischen 80 und 100 US-Dollar (bis zu 73 Euro) nach Hause tragen, fast so viel wie ein Lehrer.

In der Textilfirma Shweyi Zabe sieht Schmid diesen Eindruck bestätigt. Rund 200 Näherinnen beugen sich dort über ihre Maschinen; die Arbeitsbedingungen scheinen akzeptabel zu sein. Schmid steht vor einem Karton mit Badehosen made in Myanmar; die Lieferung ist an deutsche Kaufhäuser adressiert.

Markt für deutsche Mittelständler

Geschäftsleute, die regelmäßig hierherkommen, bestätigen: Es bewegt sich etwas. Myanmar ist im Aufbruch begriffen, ablesbar unter anderem an den Massen japanischer Autos in Yangon; seit wenigen Wochen zeigt Mercedes-Benz mit einem ersten Verkaufsraum Flagge. Auch Bosch hat jüngst eine kleine Vertretung eröffnet.

Auf einen beginnenden Aufschwung deuten auch die explodierenden Hotel- und Immobilienpreise hin. Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der IHK Region Stuttgart, ursprünglich skeptisch eingestellt, spricht nach drei Tagen und einem Treffen mit der hiesigen Handelskammer „mittelfristig gesehen von einem interessanten Markt für deutsche Mittelständler“.

Der Aufbruch in Myanmar erreicht indes längst nicht alle Bevölkerungsgruppen. „Für die einfachen Menschen hat sich wenig geändert“, sagt ein junger Politikwissenschaftler aus Yangon. In der Tat. Das Bild der auffallend sauberen Stadt ist geprägt von unzähligen Kleinstunternehmern, deren Betriebs- oder Verkaufsfläche. Dazu kommt ein riesiges Heer von ungelernten Tagelöhnern. „Desaströs“ nennt der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) das Bildungsniveau: Die meisten Kinder kommen über vier Schuljahre nicht hinaus.

Kasernenton statt freier Geist

Hier will Baden-Württemberg helfen, getreu dem Motto Schmids: Wer hilft, investiert – und hat am Ende selbst etwas davon. Konkret geht es um den baden-württembergischen Exportschlager, berufliche Bildung. In Myanmar noch ein Fremdwort. Zwischen den Berufsschulen und der Industrie gibt es bisher keine Berührungspunkte; der Facharbeiter gilt nichts. Das soll sich ändern. Auch hierfür stehen Bundesmittel bereit. Mit sieben Millionen Euro aus dem Topf der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit unterstützt die Landesregierung ein Lehrerfortbildungsprojekt in der Stadt Sinde. „Lieber klein anfangen, statt groß zu fantasieren“, sagt Hartmut Mattes, der im Kultusministerium für die Berufsschulen verantwortlich ist. So lautet auch die Devise im Unibereich. Ein großer Umwälzungsprozess scheint im Gang – hin zur Autonomie. Bisher wurden die Universitäten staatlich kontrolliert. Auf dem Campus herrschte eher ein Kasernenton als ein freier Geist. Das soll sich ändern.

Überhaupt das Militär – es ist für den Besucher unsichtbar und doch allgegenwärtig. Laut Verfassung stehen ihm in den beiden Kammern des Parlaments automatisch je 25 Prozent der Sitze zu. Vom Staatspräsidenten verlangt die Verfassung eine „militärische Vision“.

Eine Voraussetzung, die Parlamentspräsident Thura Shwe Mann zweifellos erfüllt. Der ehemalige General gilt vielen Beobachtern als nächster Präsident. Aung San Suu Kyi, die dieses Amt ebenfalls anstrebt, droht zu unterliegen, weil die Verfassung vorschreibt, dass die engsten Verwandten des Präsidenten keine Ausländer sein dürfen; ihre Söhne aber sind Briten. In Myanmar ein großes Thema. Ebenso wie die Wahlrechtsreform: Vom Verhältniswahlrecht würden die alten Generäle profitieren, vom Mehrheitswahlrecht die Opposition, die darauf hoffen darf, bei der Wahl Ende 2015 die Mehrheit der Stimmen zu erreichen.

Überhaupt macht Schmid eine gute Figur

In diese Gemengelage fällt der Besuch Schmids beim Parlamentspräsidenten – eine außergewöhnliche Ehre, wie sich herausstellt, und doch ein unwirkliches Szenario. Schauplatz des Treffens ist der riesenhafte Parlamentskomplex in der neuen Hauptstadt Naypyidaw (zu Deutsch: „königlicher Palast“), zu dem ein 20-spuriger Boulevard führt. Der Kleinteiligkeit des Landes, den Bauchläden Yangons, den Bambushütten und Ochsengespannen auf dem flachen Land, steht hier ein monumentaler Ausdruck von Macht gegenüber.

Hier scheint sich die Einschätzung einer mitreisenden Myanmar-Kennerin zu bestätigen: „Das ist ein mysteriöses Land.“

Schmid, durch die Architektur in die Rolle eines Staatsmannes gedrängt, nimmt unter einem gewaltigen Gemälde im Parlamentspalast Platz. Er lauscht den umschmeichelnden Ausführungen des Parlamentspräsidenten und bietet seinerseits an, den Reformprozess in Myanmar mit baden-württembergischem Know-how zu unterstützen. Vornweg aber sagt er einen bemerkenswerten Satz: „Bei einem so prächtigen Parlamentsgebäude darf man auch auf eine große Wertschätzung für die parlamentarische Demokratie schließen.“ Ein couragierter Fingerzeig. Überhaupt macht Schmid eine gute Figur.

Wie groß aber ist die Wertschätzung für die Demokratie wirklich? Der junge Politikwissenschaftler in Yangon schüttelt auf Nachfrage den Kopf; er hat ein bitteres Lächeln aufgesetzt. „Alles gespielt“, sagt er. Der Parlamentspräsident spreche ständig von „democraziation“, also von Demokratisierung. Treffender beschreibe ein anderer Ausdruck, was sich derzeit in Myanmar ereigne: „Demo-Crazy“.