Frauen stehen am 19. Januar 1919 in einer Schlange vor einem Wahllokal.Ursula Matschke.Ursula Matschke Foto: Friedrich-Ebert-Stiftung/dpa

Vor 100 Jahren durften Frauen erstmals in Deutschland wählen, sich politisch beteiligen. Was hat sich seither getan? Wir haben bei einigen weiblichen Bezirksbeiräten nachgefragt.

Bad Cannstatt - Vor 100 Jahren, am 19. Januar 1919, durften Frauen in Deutschland das erste Mal wählen. Ein wichtiger Tag für das politische Engagement der Frauen. Doch was hat sich seither getan? Ursula Matschke, Leiterin der Abteilung für individuelle Chancengleichheit der Stadt Stuttgart, findet: „Der Frauenanteil in der Politik ist immer noch eindeutig zu gering, auch im Stuttgarter Gemeinderat und im Landtag.“

Also gibt es noch Luft nach oben. Die Gründe dafür sind laut Matschke vielschichtig. Frauen, die sich neu in der Politik engagieren, müssten sich oft mit formalen Vorgaben befassen – und das schrecke ab. Für viele Frauen sei die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und politischem Engagement schwierig. „Familie und Sitzungstermine sind oft schwer unter einen Hut zu bekommen. Politisch engagierten Frauen sollte auch mal der Rücken freigehalten werden, politische Beteiligung familienfreundlicher gestaltet werden“, sagt Matschke. Wieso sollte es überhaupt mehr Frauen in der Politik geben? „Es geht nicht darum, dass Frauen bessere Politik machen“, erklärt Matschke, „sondern, eher darum, dass unsere gesellschaftliche Vielfalt in der Politik sichtbar sein sollte. Das gilt bezüglich Geschlecht ebenso wie für Kulturen, Alter, sozialer Herkunft, Behinderung, sexueller Identität und Orientierung.“

Großes Engagement

Mehr Vielfalt in der Politik, das wünscht sich auch Heike Funk, die Vorsitzende der CDU-Stadtbezirksgruppe Mühlhausen. Zurzeit sitzt sie mit einer Frau und drei Männern in einer Fraktion. Für sie gar kein Problem. Die Arbeit mit ihren männlichen Kollegen sei ein „konstruktives, freundschaftliches Miteinander“. Aber: „Generell würde ich mir mehr weibliche Kolleginnen wünschen, um die Zusammensetzung unserer Gesellschaft besser abzubilden.“ Sie kennt viele Frauen, die sich für gesellschafts- und kommunalpolitische Themen interessieren. „Sie arbeiten aber in sehr unterschiedlichen Bereichen und zum Großteil ehrenamtlich, zum Beispiel in kirchlichen Gemeinden, Frauenkreisen, Stiftungen, Vereinen und Verbänden“, sagt Funk.

Politisches Amt attraktiver machen

Ähnliche Erfahrungen hat Annette Baisch, Bezirksbeirätin der Freien Wähler in Hedelfingen, gemacht. „Frauen engagieren sich verstärkt im sozialen Bereich, Männer für wirtschaftliche Belange, die häufiger mit Macht und Einfluss verknüpft werden.“ Die Aufwertung sozialer, meist weiblich besetzter Berufe, sagt sie, verändert unser Rollenbild genauso wie Frauen in Führungspositionen. „Solange ‚Elternsein’, und die damit verbundene Teilzeitarbeit weiter zu erheblichen finanziellen Einbußen führt, ist die Politik nicht unbedingt ein attraktives Betätigungsfeld für Frauen.“ Andrea Mathiasch, Vorsitzende der CDU-Bezirksbeiratsfraktion Untertürkheim, sieht trotzdem eine positive Entwicklung. „Es gibt eine Tendenz zu mehr Frauen in der Politik. Die Frauen sind selbstbewusster und interessierter geworden.“ Sie empfindet es heute als keinen Nachteil mehr, eine Frau zu sein und sie könne gar nicht glauben, dass Frauen erst seit 100 Jahren wählen dürfen. Die Zusammenarbeit in ihrer Fraktion mit einem Mann und drei Frauen sei „hervorragend“, da allen ihr Bezirk Untertürkheim wichtig sei.

Mehr Frauen in Gremien erwünscht

Elisabeth Remppis, Grünen-Bezirksbeirätin in Obertürheim, beschreibt die Zusammenarbeit mit ihrer Fraktionskollegin als sehr gut. An der Diskussionskultur im Bezirksbeirat übt sie jedoch Kritik: „Im Bezirksbeirat sind wir Frauen nur schwach vertreten, drei weibliche und sieben männliche Kollegen“, sagt sie. Häufig würden einzelne sich und ihre Partei profilieren wollen. Dabei würden immer wieder andere abgewertet, nicht nur Frauen. „Ich persönlich glaube, dass die Arbeitsatmosphäre unter anderem mit der Dominanz der Männer zusammenhängt und würde mir deshalb mehr weibliche Kolleginnen wünschen.“ Es gebe jedoch auch viele gute Diskussionen, fügt sie hinzu.

Inge Utzt, SPD-Bezirksbeirätin in Bad Cannstatt, ist seit den 80-er Jahren in verschiedenen Gremien aktiv und beobachtet heute „mehr Einfluss von Frauen in der Politik als zu Beginn meines politischen Engagements“. Es wäre jedoch schön, wenn die Hälfte der Mitglieder in politischen Gremien Frauen wären, sagt sie. Die Frauen müssten mehr unterstützt werden. „Es wäre gut, wenn eine zeitliche Entlastung den Frauen ein politisches Engagement erleichtern würde. Bessere Information über die Arbeit in den Gremien wäre sicher auch hilfreich.“

Fortschritte erkennbar

Ursula Matschke kann ebenfalls eine positive Entwicklung beobachten. „Es ist schon ein Fortschritt zu sehen – hohe Parteiämter werden zunehmend von Frauen eingenommen. Außerdem beobachte ich bei jungen Frauen ein neues Selbstbewusstsein.“ Die „Metoo-Debatte“ habe dabei sicherlich eine Rolle gespielt. „Letztlich geht es um ein Miteinander der Geschlechter in ihrer Vielfalt, um Toleranz und Akzeptanz“, sagt sie abschließend.

Die Zusammensetzung des Stuttgarter Gemeinderates und damit der Bezirksbeiräte können die Bürgerinnen und Bürger am 26. Mai bei der Gemeinderatswahl übriges mitbestimmen.