In Amalie Speidels Sammlung von Erinnerungen gehört jetzt auch ein Filmposter. Denn „Nebel im August“ erzählt die Geschichte ihres ermordeten Bruders. Foto: Gottfried Stoppel

Im Jahr 1944 wurde Amalie Speidels Bruder als angeblich „asozialer Psychopath“ ermordet. Nun erzählt der Film „Nebel im August“ das Leben des Euthanasie-Opfers Ernst Lossa.

Backnang - Was von Amalie Speidels Bruder bleibt, ist ein Foto. Der Kopf von Ernst Lossa ist darauf kahl geschoren, die Augen etwas trotzig, etwas traurig vielleicht auch, aber wach und interessiert. Die Aufnahme zeigt Lossa im Alter von zwölf Jahren. Er hat sie etwa zwei Jahre später einem Pfleger geschenkt – zur Erinnerung. Als hätte er gewusst, dass er am nächsten Tag ermordet würde.

Die letzten Lebensjahre des Euthanasie-Opfers Ernst Lossa sind jetzt die Vorlage für einen Film: „Nebel im August“ läuft derzeit im Kino. Der Regisseur Kai Wessel hat sich zwar einige Freiheiten genommen, damit die Geschichte auch auf der Leinwand funktioniert. Die Eckdaten stimmen aber. Die 85-jährige Amalie Speidel hat den Filmleuten immer wieder geholfen, Auskunft gegeben über ihre Zeit mit ihrem Bruder Ernst. Sie hat den Film gesehen. „Ich fand ihn schön, aber traurig“, erzählt sie. „Der Junge hat Ernst gut gespielt – ich hatte wirklich meinen Bruder vor Augen.“

Die zierliche Witwe darf auf den roten Teppich

Zur Premierenfeier durfte sie auf Kosten der Produktionsfirma in einem Taxi nach München fahren und im Luxushotel „Bayrischer Hof“ übernachten. Die kleine, zierliche Witwe, die mit ihren beiden Wellensittichen in einem Hochhaus in Backnang lebt, schnupperte die Luft der Stars, ging über den roten Teppich. „Da waren so viele Blitzlichter, ich bin fast blind geworden“, erzählt sie lachend.

Amalie Speidel stammt aus einer Familie von Jenischen. Ihre Eltern verdienten sich als reisende Restauratoren für Kirchenfiguren ihren Lebensunterhalt. Doch ihre Herkunft wird für sie, ihre beiden Geschwister – den älteren Ernst und die jüngere Anna – sowie für ihre Eltern schon früh zur Schicksalsfrage. Nachdem die Mutter früh starb, wird der Vater im Jahr 1936 als „Zigeuner“ ins Konzentrationslager Dachau gebracht, die drei Kinder kommen in ein Heim bei Augsburg. Als ihr Vater 1942 im KZ Flossenbürg ermordet wird, werden sie Vollwaisen.

Ernst Lossa ist da schon im Erziehungsheim Indersdorf – er hatte gestohlen und war durch Ungehorsam aufgefallen, woraufhin man ihn als „unerziehbar“ einstuft. „Er war aber ein netter Kerl“, erinnert sich Amalie Speidel. Und gestohlen habe er auch, um anderen Kindern etwas zu essen zu bringen. Die verantwortlichen Mediziner kommen damals zu einem anderen Schluss: Lossa ist für sie ein asozialer Psychopath, „er wird bei seiner starken Triebhaftigkeit voraussichtlich nicht wesentlich gebessert werden können“, so ein Gutachten. Im Heim wird er deshalb geschlagen und an einen Stuhl gefesselt. „Meine Schwester und ich mussten immer mit den Jungen die Schulaufgaben machen – dann haben wir ihn so gesehen. Er hat immer nach uns geschrien“, erinnert sich Speidel.

Ernsts Todeskampf dauert einen Tag

Doch es kommt noch schlimmer – weit schlimmer. Die Männer, die Ernst eines Nachts aus dem Schlafsaal holen, sagen, er werde an einen schöneren Ort gebracht. Doch er kommt nach Irsee, in eine Zweigstelle der Heilanstalt Kaufbeuren. Dort wird aus Sicht der Nazis unwertes Leben vernichtet. Am Abend des 8. August 1944 setzt man Ernst Lossa zwei Injektionen. Sein Todeskampf dauert bis zum nächsten Tag. Erst viele Jahre später erfährt Speidel, wie ihr Bruder „ausradiert wurde“, wie sie sagt. Er ist eines von 5000 Kindern, die der Euthanasie zum Opfer fallen.

Das Foto von Ernst ziert inzwischen mindestens zwei Buchcover. Es ist nicht das einzige Bild, das Amalie Speidel in ihrer Wohnung aufgehängt hat. Die Wände sind voller Erinnerungsbilder: Haustiere; das Filmposter; ihr verstorbener Mann; sie selbst, mit ihren Geschwistern. „Manche tun ihre Fotos ja in einen Schuhkarton“, sagt Speidel. „Aber da sind sie doch tot. Ich habe sie gerne hier um mich – da leben sie.“