Hans-Christoph Rademann Foto: Holger Schneider

Beim diesjährigen Musikfest Stuttgart macht die Internationale Bachakademie einen weiteren Schritt hin zu einem grundlegenden Umbau. Zukünftig wird Hans-Christoph Rademann ein Orchester mit historischen Instrumenten dirigieren. Im dessen Zentrum steht eine rekonstruierte Orgel.

Stuttgart -

Herr Rademann, wie sind Sie auf die sächsische Silbermann-Truhenorgel gestoßen, deren Nachbau jetzt in Stuttgart steht?
2014 habe ich einen Artikel über den Fund gelesen, aus Dresdner Kreisen habe ich dann auch etwas darüber gehört, aber niemand wusste genau, was das für ein Instrument sein sollte. Auf Gottfried Silbermann als Erbauer kam erst niemand, weil man davon ausgegangen war, dass in dessen Werkstatt der keine Truhenorgeln gebaut wurden. Nach und nach wurde aber deutlich, was für ein Schatz da fünfzig Kilometer nordwestlich von Dresden entdeckt worden war, und da wusste ich sehr schnell, dass dieses Instrument genau das ist, was ich für Stuttgart suche und brauche. Und mir war klar: Wenn es mir nicht gelingt, Geld aufzutreiben, baut jemand anders die Orgel nach. Als dann ein Sponsor zusagte, sämtliche Kosten des Nachbaus, also knapp 100 000 Euro, komplett zu übernehmen, habe ich mich gefreut wie ein Kind. Ich glaube, dieses Instrument ist ein ganz großer Glücksfall für Stuttgart.
Ist es ein präziser Nachbau des barocken Instrumentes?
Der Nachbau kommt der alten Truhenorgel so nahe wie möglich. Und die Modifikationen, die wir noch gemacht haben, sind sinnvoll. Wir mussten das große C als zusätzlichen Ton in der Tiefe hinzufügen, und man kann jetzt mittels Verschiebung in verschiedenen Stimmungen zwischen 415 und 465 Hertz musizieren. Das Stimmen dauert momentan noch vier Stunden, aber die Orgel ist sehr robust – und universal einsetzbar. Man könnte sogar Musik der Vor-Bach-Zeit auf ihr spielen, aber in Monteverdis Marienvesper wollte ich sie jetzt noch nicht einsetzen, weil ich sie unbedingt bei Werken unseres Kernrepertoires in der Stiftskirche vorstellen will. Bach soll das erste sein, was von ihr in Stuttgart öffentlich zu hören ist.
Und warum brauchen Sie genau diese Orgel?
Ich habe mich gefragt, wie es kommen kann, dass in Deutschland kein Ensemble als Vertreter des idealen Bach-Stils anerkannt ist. Der Thomanerchor zum Beispiel musiziert immer mit dem Gewandhausorchester zusammen: ein herrliches Orchester, das aber mit modernen Instrumenten musiziert; weil wir inzwischen viel von den Instrumenten und der Stilistik der Barockmusik wissen, kann dieses Orchester nicht zum Sachwalter einer Bachpflege auf der Höhe unserer Zeit werden. Was in Leipzig gemacht wird, ist lediglich ein großer Kompromiss. Die Bachakademie war in der Ära Rilling erst Vorreiter. Dann kamen viele neue historische Erkenntnisse. Man hätte die Stuttgarter Ensembles bewusst gegen den Strom schwimmend so weiterführen können wie bisher, aber das wäre eine Fehlentscheidung gewesen. Ich will den mitteldeutschen Bach-Klang finden, und dass ich das in Stuttgart mache, spielt keine Rolle. Diesen mitteldeutschen Klang habe ich in der Truhenorgel, die der Musik klare Strukturen schafft und dem Orchester Orientierung gibt. Deshalb stellen wir sie mitten auf die Bühne und bauen das Orchester um sie herum.
Das hat für das Orchester dann aber klangliche und dynamische Konsequenzen, und auch an der Balance werden Sie arbeiten müssen. Haben Sie schon etwas ausprobiert?
Nein. Ich weiß absolut nicht, wie es wird. Das ist völliges Neuland. Ich weiß auch noch gar nicht, wie mein Orchester klingen wird. Ich weiß nur, dass es ein gutes Orchester sein wird und dass wir uns gemeinsam entwickeln müssen. Die Musiker sind erstklassig. Konzertmeisterin wird jetzt Nadja Zwiener vom English Concert sein, sie bringt ihren Lieblingscellisten Joseph Crouch mit, eine Koryphäe im Continuo-Bereich. Ergänzend kommen sehr gute Führungskräfte an die ersten Pulte.
Das heißt, Sie fangen erst einmal an, probieren aus . . .
Es kann durchaus sein, dass die Musiker erst einmal erschrecken, weil die Orgel so laut klingt. Dass sie denken, sie hören sich gar nicht mehr. Wir müssen aber auf die Vorgaben eingehen, die uns die Orgel liefert. Das ist alles ein Wagnis. Wenn man Entscheidungen immer absichern wollte, dann bliebe man stehen. Und ich bin nicht hochnäsig. Ich will niemandem zeigen, wo’s lang geht. Ich habe eher eine Demutshaltung. Wir wollen vor allem gute Musik machen.
Wenn Sie wirklich einen authentischen Klang anstreben: Müssten Sie dann nicht eine große Kirchenorgel haben?
Ich sehe hier weit und breit keine passende Orgel und auch keine Kirche. Außerdem können wir nicht die Bedingungen der Bach-Zeit exakt reproduzieren. Natürlich könnte ich mit meinen Ensembles zu Aufnahmen nach Naumburg in die Wenzelskirche fahren, und das will ich auch mal tun. Aber hauptsächlich mache ich doch Musik für die Menschen in und um Stuttgart. Mein Traum wäre ein Konzertsaal hier, der es möglich machte, eine Bach-Orgel einzubauen. Dieser Saal dürfte dann nicht ganz so viele Sitzplätze haben wie der Beethovensaal, damit nicht so viel Energie im Raum verloren geht.
Wie viele Musiker des alten Bach-Collegiums werden übergehen ins neue Orchester der Gaechinger Cantorey?
Bislang nur wenige. Man muss sehen, wie sich das weiterentwickelt. Natürlich wäre es optimal, möglichst viele Musiker aus der Region in den Ensembles zu haben. Aber es ist auch wichtig, nach den besten Leuten zu suchen – und nach denen, die am besten zu uns passen, damit man am Ende eine gute Mischung hat. Das haben wir versucht – auch beim Chor, der bei Bach fünf Sänger pro Stimme haben wird, bei Händel etwas mehr.
Gibt es Fortschritt in der Musikgeschichte?
Nur im Sinne der Chronologie. Ansonsten gibt es ihn natürlich nicht. Ein altes Gemälde einem neuen nicht qualitativ unterlegen, und unterschiedliche Klangfarben in der Musik sind nicht besser oder schlechter, sondern müssen zur Musik passen, die gut gespielt werden muss. Heute müssen wir versuchen, dass die Nachteile des alten Instrumentariums nicht in den Vordergrund rücken. Sollte es Schwachstellen geben, dann muss ich Spieler suchen, bei denen man diese nicht hört.
Das Motto des Musikfests 2016 lautet „Reichtum“. Wie lösen Sie es ein?
In extrem passender Weise mit Bach, denn die Kantaten sind ja alle auf das Motto ausgerichtet und machen einen sehr nachdenklich. Ich staune immer wieder über die Vielfalt der theologischen Aspekte, die Bach aufruft, wenn er etwa in der Kantate „Was frag ich nach der Welt“ die Erde, an die der Mensch gefesselt ist, mit glitzernden Triolen darstellt: als Tand, auch als unsicher und instabil. Insgesamt geht es nicht nur um materiellen Reichtum, sondern auch um einen kulturellen, der sich beispielsweise in der Pracht der venezianischen Musik von Monteverdis „Marienvesper“ äußert, und Händels Oratorium „L’Allegro, Il Penseroso ed il Moderato“ behandelt die richtige Lebensweise zwischen manischem Überschwang und Depressivität, Oberflächlichkeit und Grübelei. In einer Arie ist von einer Lerche die Rede, und die Musik imitiert hier tatsächlich den Rhythmus der Vogelstimme. Die Musik führt uns die Welt vor Augen in Form eines Klangbildes, das wir mit dem Körper verstehen. Das kann man besser nicht machen als hier Händel.
Nun passt das Motto ja sehr gut nach Stuttgart: weil hier ein großer Reichtum ist. Und weil man es auch als Aufforderung verstehen kann: Nehmt doch mal wahr, was hier ist, und tut etwas dafür, dass es bleibt und wächst.
Es gibt Musterbeispiele von Mäzenaten, die mit ihrem Geld auch etwas für die Gesellschaft bewirken wollen. Auch jemand, der Steuermittel verwaltet, sollte mit denen so umgehen als sei es sein eigenes Geld, und in Werte investieren. Die sind doch da, die machen wir hörbar. Wenn heute bestimmte politische Gruppierungen den Untergang des christlichen Abendlandes beklagen, dann sollten sie sich das anhören: Auch die Musik, die wir machen, ist Teil des christlichen Abendlandes. In Bachs Kantaten sind die Werte-Koordinaten ganz klar aufgestellt. Für eine bestimmte politische Klientel ist diese Musik aber einfach zu anspruchsvoll. Da müsste man noch viel Vermittlungsarbeit leisten. Das Schicksal der Bachakademie wird sich allerdings vor allem an der Kernfrage entscheiden, ob wir ein neues, jüngeres Publikum gewinnen und bei uns halten können.

Das Gespräch führte Susanne Benda.