Bunt und voller Energie: Das Béjart Ballet Lausanne tanztn „T’M et variations“ von Gil Roman. Foto: Batardon

Bewahren oder experimentieren? Im Umgang mit dem Erbe ihre Gründers stehen das Béjart Ballet Lausanne und das Stuttgarter Ballett vor denselben Fragen. Die Antworten können recht unterschiedlich ausfallen, wie nun ein Gastspiel zeigte.

Stuttgart - Klassisches Weiß war angesagt, als das Stuttgarter Ballett zuletzt im Opernhaus tanzte. Mit „Shades of White“ hat der neue Intendant Tamas Detrich Tänzern und Publikum zu seinem Einstand einen Abend verordnet, der die Facetten des klassischen Balletts gleich dreifach feierte. Nun ist das Stuttgarter Ballett auf Tournee in Japan und exportiert mit John Crankos „Schwanensee“ einen weiteren Traum in Weiß. Damit die Bühne im Stuttgarter Opernhaus während der dreiwöchigen Abwesenheit der Kompanie nicht komplett zur tanzfreien Zone wird, ging eine Einladung an das Béjart Ballet Lausanne, das bereits 2015 eine Abwesenheit des Stuttgarter Balletts überbrückte.

Stand vor drei Jahren Maurice Béjarts Bartók-Ballett „Der wunderbare Mandarin“ im Mittelpunkt, ging es dieses Mal an zwei Abenden ums Ganze. Um den ganzen Béjart. Weil sich 2017 der Umzug seiner Kompanie von Brüssel nach Lausanne zum 30. Mal und sein Todestag zum 10. Mal jährte, war das dem BBL, wie sich das Béjart Ballet Lausanne abkürzt, eine Verbeugung vor seinem Gründer wert. Und so war am Samstag im Opernhaus ein Fest angesagt, prall an Stimmungen, Energie und Emotionen, wie sie typisch sind für die Tanzstücke des Franzosen.

Größer freilich hätte der Unterschied nicht sein können zwischen dem farblosen Saisonauftakt des Stuttgarter Balletts und dem kunterbunten Reigen der Lausanner. Dabei sind die beiden Kompanien eigentlich Geistesverwandte: Jede muss nach dem Tod ihres Gründers abwägen, wo die richtige Balance liegt zwischen bewahren und experimentieren. Seit Béjarts Tod sorgt sein ehemaliger Tänzer Gil Roman dafür, dass das BBL nicht im Musealen verharrt.

Liebeserklärung an Béjart

Und Roman hat, wie die zwei Stücke dieses Gastspielabends zeigen, eine sehr lebendige Art, mit dem ihm anvertrauten Erbe umzugehen. Scheu vor Eingriffen kennt er jedenfalls nicht, wie er in einem Interview anmerkte, im Gegenteil: „Ich erachte es als meine Pflicht, ein Stück so gut wie möglich zu präsentieren“, sagt er. Korrekturen im Sinne des Erfinders hält er für unabdingbar, wenn so die ursprüngliche Idee klarer zum Tragen kommt. Weil er zugleich auch Präsident der Stiftung Maurice Béjart ist, kann er ein Best-Off aus dessen Balletten montieren, wie es ihm in seiner Hommage „Béjart fête Maurice“ aufs glücklichste gelungen ist.

Los geht es aber mit „T’M et Variations“, Gil Romans ebenfalls zum BBL-Jubiläum entstandener Liebeserklärung an Béjart, an den Tanz – und an dessen Zukunft. Es ist ein Stück ganz im Sinne von Béjarts Idee des „spectacle totale“. Zum Gesamtkunstwerk gehören in diesem Fall zwei Perkussionisten, die im Hintergrund in einer auch optisch reizvollen Anordnung an Schlaginstrumenten direkt auf die Tänzer vor ihnen reagieren. Da gibt es zum Beispiel ein tischartiges Ding, das, mit zwei Besen gestreichelt, den Tänzern den Klang hörbar auf den Leib schreibt. So überlagern die Schlagwerker den meditativ pulsierenden Metallsound, den Nick Cave und Warren Ellis (ursprünglich für den Film „The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford“) vorgeben.

Bademantel statt Tutu

Es dauert ein wenig, bis Gil Romans Mix aus vibrierenden Standbildern und slapstickhaft überzogenen Gefühlsregungen genug Fahrt aufnimmt, um von Tanz zu sprechen. Doch dann fügt sich das Ensemble in immer neuen Formationen farbenfroh in kleine Erzählungen, und die vom Titel angekündigten Liebeserklärungen werden in vielen Schattierungen lebendig. „Shades of Love“ würde dieser Abend in Stuttgart heißen. Witzigerweise hat Gil Roman sogar einen weißen Akt im Angebot. Statt Tutu tragen seine zehn Tänzerinnen jedoch Bademantel, der Spitzenschuh ist zum Kopfschmuck umfunktioniert: Mit so feiner Ironie gezeichnet, ist das Bild der Ballerina fit für die Gegenwart.

„T’M et Variations“ krankt allerdings am gleichen Symptom wie Gil Romans beim letzten Gastspiel getanztes Stück „Syncope“: Auch dieser Reigen an Begegnungen ist so übervoll an Wandlungen und Wendungen, dass ihm ein wenig die Mitte fehlt. Doch der Blick geht nach vorn, und diese Orientierung tut jeder Kompanie gut. „Tänzer wollen am kreativen Prozess teilhaben“, weiß Gil Roman, „und sie wollen tanzen, was auf sie zugeschnitten ist. Ich würde nie eine reine Repertoire-Kompanie führen wollen. Die Repertoirepflege lebt von der Kreation und die Kreation vom Repertoire.“

Gil Romans ganz eigene Playlist

Was das heißt, war dann im Best-Off-Zusammenschnitt „Maurice fête Béjart“ zu bewundern. „Ich habe eine Reihe von Ausschnitten ausgewählt, so ähnlich wie man es tun würde in Vorbereitung einer Feier. Oder wie man Lieder für ein Konzert, eine Vorstellung, ein kurzes Treffen zusammenstellen würde“, notiert Gil Roman zu seiner ganz eigenen Béjart-Playlist. Alles ist darauf, wofür Béjart steht: Das Interesse für fremde Kulturen ebenso wie der spezielle Sinn für Gemeinschaft, Humor gehört dazu, ein wenig Pathos und diese Pop-Power, der Béjart den Ruf als Ballettrebell verdankt.

Sportlich interpretiert er in seiner „1st Symphonie“ zu Beethoven die klassischen Vorgaben, bewundernswert beweglich fügen sich die zwei Paare in „Heliogabale“ zu traditioneller Musik aus dem Tschad in animalische Rituale. Inspirationen aus dem indischen Tempeltanz setzen exotische Akzente mit ornamental verbogenen Gliedmaßen, bei einer jüdischen Zeremonie bleibt ein Paar in respektvoller Distanz. Ob sehnsüchtiger Pas de deux oder augenzwinkerndes Solo, bei dem flott gedrehte Pirouetten in einen Purzelbaum münden: Emanzipation scheint das Stichwort, mit dem sich Béjarts Wirken in dieser Zusammenstellung am besten begreifen lässt und das die tolle Präsenz der Tänzer erklärt. Männer sind hier feinfühliges Gegenüber und nicht muskelprotzige Tonangeber, Frauen übernehmen als starke Schrittmacherinnen Führungsrollen, überhaupt ist jeder wichtig mit der Farbe, die er ins Spiel bringt. So gelingen im Respekt für den einzelnen wunderbare Gruppenszenen, in denen individuelle Energien am Ende in einem atmenden Ganzen aufgehen.

Ballett muss berühren, nicht nur beeindrucken: Für diese eindringliche Lehrstunde erhielten die Gäste aus Lausanne langen und herzlichen Applaus.