Die Autoindustrie soll ein Kartell gebildet haben. Doch die EU-Wettbewerbskommissarin Vestager ist in ihrer Bewertung extrem vorsichtig. Das geht aus ihrem Brief an Verkehrsminister Alexander Dobrindt hervor.
Berlin - Die Vorwürfe wiegen schwer: Die Autohersteller Daimler, BMW, Audi, Porsche und Volkswagen stehen im Verdacht, ein Kartell gebildet zu haben. Nach Medienberichten soll Daimler schon 2014 eine Selbstanzeige abgegeben haben, später soll sich auch Volkswagen offenbart haben. Seitdem ermitteln die Behörden. Doch die Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager äußert sich zu den erhobenen Vorwürfen extrem zurückhaltend. Das ist bei sensiblen Kartellverfahren zwar nicht weiter verwunderlich. Aufhorchen lässt aber, dass die Kommissarin den Ausgang des Verfahrens für offen hält. Weil Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) von Vestager Auskunft über den Stand der Ermittlungen erhalten wollte, schrieb er einen Brief nach Brüssel. Das Antwortschreiben der Kommissarin ist inzwischen eingegangen und liegt dieser Zeitung vor. Daraus geht hervor, dass die EU-Kommissarin nicht sicher ist, ob sich die Vorwürfe erhärten. Wörtlich führt sie aus: „Es ist gegenwärtig verfrüht darüber zu spekulieren, ob aus den vorliegenden Informationen wettbewerbsrechtliche Bedenken oder weitere Schritte erfolgen können.“ Nach Informationen dieser Zeitung hat die Kommission bisher kein förmliches Ermittlungsverfahren gegen die Autohersteller eingeleitet.
Der Brief aus Brüssel wird aufmerksam registriert
Damit macht die Kommissarin klar, dass es nicht sicher ist, ob sich der Kartellverdacht gegen die Autokonzerne bestätigt. Obwohl sich die Bundesregierung mit Bewertungen zurückhält, sind Vestagers Äußerungen in Berlin aufmerksam registriert worden. Bei einer Unterrichtung zum Dieselgipfel informierte Verkehrsminister Dobrindt die Obleute aller Fraktionen über Vestagers Brief. Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig sagte dieser Zeitung: „Es ist noch nicht entschieden, ob ein formelles Verfahren eingeleitet wird. Das entscheidet die EU-Kommission.“
Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass sich Kartellverfahren über Jahre hinziehen. Wenn es aber stimmt, dass Daimler 2014 eine Selbstanzeige abgab, hat Brüssel drei Jahre Zeit gehabt, den Vorwürfen nachzugehen. Merkwürdig ist, dass nach dieser langen Zeit noch nicht klar ist, ob an den Vorhaltungen etwas dran ist. Die EU-Kommission hat allerdings nie bestätigt, wann Selbstanzeigen eingingen. Die Kommissarin weist in ihrem Schreiben darauf hin, dass es der Behörde auf absolute Vertraulichkeit ankommt. Da die Kartellvorwürfe für die Unternehmen schwerwiegende Folgen haben könnten, sei es bei allen Verfahren wichtig, dass keine ungesicherten Informationen an die Öffentlichkeit drängen. Dies sei auch notwendig, um ein effektives und rechtssicheres Verfahren zu gewährleisten.
CDU-Politiker warnt vor Vorverurteilung
Der CDU-Wirtschaftspolitiker Joachim Pfeiffer rief dazu auf, die Untersuchungen abzuwarten. Er kritisierte die Vorverurteilung der Automobilindustrie. „Wir leben in einem Rechtsstaat“, sagte Pfeiffer. Die EU-Wettbewerbskommissarin sei unabhängig und der Ausgang des Verfahrens völlig offen, so der Bundestagsabgeordnete. In der Automobilbranche wird unterdessen über den Anlass für die Selbstanzeigen von Daimler und VW spekuliert. Nach der Aufdeckung eines Lkw-Kartells im Jahr 2011 sollen einige Konzerne schon beim geringsten Zweifel an Handlungen der Vergangenheit Selbstanzeigen abgegeben haben, um ihr Wohlverhalten zu demonstrieren. Gegen die fünf europäischen Lkw-Hersteller, die damals am Lkw-Kartell beteiligt waren, verhängte die EU im Jahr 2016 eine Rekordstrafe von 2,9 Milliarden Euro. Die Autobauer wollen nicht noch einmal so drakonisch bestraft werden.
Vestager listet im Brief an Dobrindt zahlreiche Kartellverfahren auf, die seit 2008 gegen europäische, japanische und amerikanische Automobilunternehmen eingeleitet worden sind. Sie führt zu den aktuellen Vorwürfen nur aus, dass die Europäische Kommission und das Bundeskartellamt Informationen erhielten. Die Unterlagen würden unter Federführung der EU-Kommission mit Priorität geprüft. Bei derartigen Untersuchungen kooperiert Brüssel eng mit den nationalen Wettbewerbsbehörden. Nachdem die EU-Wettbewerbskommissarin den Fall übernommen hat, liegt die Entscheidung über das weitere Vorgehen in Brüssel. Die Überprüfung kann womöglich einige Zeit dauern. Die übermittelten Informationen seien umfangreich und berührten komplexe Sach- und Rechtsfragen, heißt es.