Rain Man mit Tom Cruise (rechts) und Dustin Hoffman gilt als einer der bekanntesten Filme über Autismus. Foto: imago/ZUMA Press/imago stock&people

Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung sind vielen Vorurteilen ausgesetzt. Häufig ecken sie im sozialen Austausch an, weil sie nicht richtig verstanden werden. Sie selbst sehen sich aber weder als krank noch als gestört. Eine Stuttgarterin und ein Tübinger erzählen, wie die Diagnose ihnen geholfen hat.

Da war immer diese „unsichtbare Wand“ zwischen ihm und den anderen. Schon an seinem ersten Tag im Kindergarten spürte er sie. Selten hat er es geschafft, Freundschaften aufzubauen. Er habe schon als Kind eine „Erwachsenen-Sprache“ gehabt, und er konnte nicht erkennen: Macht jemand gerade einen Witz, oder meint er es ernst? „Ich war der ewige Außenseiter, an dem alle anderen immer ausgetestet haben, wie weit sie gehen können“, erzählt Andreas Croonenbroeck (46) aus Tübingen.

 

Er hat das Asperger-Syndrom, eine Autismus-Spektrum-Störung. Mimik und Gestik von anderen Menschen richtig deuten – das fällt ihm schwer, sagt er. Und andere merkten das. Seine Mitschüler haben ihn oft verspottet und ausgegrenzt.

In der Ausbildung kommt er besser zurecht

Nach der Schule macht er eine Ausbildung zum Mediengestalter. „Da bin ich relativ gut reinkommen“, sagt Croonenbroeck, Vorsitzender des Vereins „Autismus verstehen“ sowie Chefredakteur des gleichnamigen Fachmagazins. Gestaltung, Typografie und Design – das ist eine Welt, die ihm leichtfällt. Später macht er ein Volontariat in einem Verlag. Er arbeitet sehr schnell, sehr fokussiert, zeigt sehr gute Leistungen, so erzählt er es heute.

Er tut sich nur schwer im Umgang mit anderen Menschen, weil sie ihn nicht verstehen. Um gleich zu sein, hat er seine ureigenen Verhaltensweisen oft „maskiert“, was ihn wahnsinnig angestrengt hat. Immer wieder versucht er, sich zusammenzureißen, so zu sein wie alle anderen Menschen auch. Aber es funktioniert nicht.

Was stimmt nicht mit ihm? Er kann die Frage nicht beantworten. Dadurch hat er immer wiederkehrende depressive Phasen, Erschöpfungszustände. Viele soziale Situationen, die anderen keine Probleme bereiten, strengen ihn an. Aber weder Medikamente noch Therapien bringen eine wirkliche Verbesserung.

Andreas Croonenbroeck geht heute offen damit um, dass er autistisch ist. Foto: privat/ /Julian Bauer

Er musste 37 Jahre alt werden, zig Therapien hinter sich bringen, um zu wissen, dass er Autist ist. Seit 14 Jahren lebt er in Tübingen. Dort findet er irgendwann einen neuen Arzt. Der nimmt sich mehr Zeit als andere Psychiater, die er bis dato aufgesucht hatte. Nach einem Jahr erhält er von ihm die Diagnose. „Das war eine große Erleichterung“, sagt er. „Ich hatte dann auch die Chance, damit umzugehen.“

Vor allem das Sozialverhalten ist anders

Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung. Innerhalb der Autismus-Spektrum-Störungen gibt es unterschiedliche Symptome, Ausprägungen und Schweregrade: Die Bezeichnung deckt einen Bereich ab von schwerer geistiger Behinderung – Betroffene also, die nur sehr schwer mit ihrer Umwelt interagieren können – bis hin zu milderen sozialen Problemen im Umgang mit anderen Menschen.

Anzeichen für Autismus-Spektrum-Störungen sind eine gestörte soziale Interaktion, wiederholte und stereotype Verhaltensmuster, also oft das starre Festhalten an Gewohnheiten, bei manchen kann es auch zu einer ungleichmäßigen geistigen Entwicklung kommen. Eine genetische Komponente gilt als sehr wahrscheinlich.

Den Begriff „Störung“ oder „Krankheit“ empfinden Autistinnen und Autisten meistens als unangemessen. Das sieht auch Croonenbroeck so. Er „leidet“ nicht unter seinem Autismus. „Und das geht vielen Autisten so“, betont Croonenbroeck. „Die Probleme entstehen ja in der Interaktion mit der Außenwelt.“ So bringe manche schon ein plötzlicher Telefonanruf völlig durcheinander.

Auch in der Forschung gibt es inzwischen viele Vertreter der sogenannten Neurodiversitätsbewegung, die in Entwicklungsstörungen wie Autismus keine Krankheit sehen, sondern schlicht eine Variation. Das bedeutet, die Besonderheiten vieler Autisten nicht als Störung zu sehen. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg, selbst Asperger-Autistin, sagt, sie sehe es sogar als eine „Superkraft“ an. Andreas Croonenbroeck ist der Meinung, dass es auch gefährlich sein könne, autistische Verhaltensweisen „abzutrainieren“. „Man muss akzeptieren, dass wir einfach anders sind, und Brücken zu uns bauen.“

Er hat sich sein Leben inzwischen so eingerichtet, dass er besser zurechtkommt, indem er selbstständig als Journalist von zu Hause arbeitet. „Ich kann da auch mal einen halben Tag nicht ans Telefon gehen“, sagt er. Wenn ihm eine Partyeinladung zu viel ist, stößt er nun auf größeres Verständnis. „Ich würde gerne, aber ich kann heute nicht“ – dies akzeptieren nun alle, die ihn gut kennen. Denn einen ganz kleinen Freundeskreis hat er inzwischen. „Sie wissen, dass ich nie die Initiative für ein Treffen ergreife, sondern sie mich kontaktieren müssen“, sagt er.

Erste Auffälligkeiten zeigen sich schon in der Kindheit

Auch Lena, die nicht mit ganzem Namen in der Zeitung sein möchte, wusste wie Croonenbroeck schon als Kind, dass etwas mit ihr anders ist. „Meine Mutter bemerkte, schon als ich zwei war, dass ich oft einfach wie durch sie durchgeschaut habe, wenn sie mit mir gesprochen hat“, erzählt die 33-Jährige, die in Ostfildern lebt.

„Die Situationen haben sich gehäuft“, sagt sie. In ihrer Kindheit sei sie mit ihrer Mutter von Arzt zu Arzt gerannt, habe eine Therapie nach der anderen gemacht. Kein Arzt wusste, was die Ursache ist.

Auch sie erfährt erst im Erwachsenenalter, dass sie das Asperger-Syndrom hat – als sie während ihrer Ausbildung wegen starker Erschöpfung in die Klinik kommt. Danach geht sie in eine Selbsthilfegruppe. „Das war eine coole Erfahrung“, sagt Lena. „Alle Leute haben ähnlich getickt wie ich. Zum ersten Mal in meinem Leben.“

Davor sei es so gewesen, dass Menschen auf sie „anders“ reagierten, sie eher „angeeckt“ sei. Auch weil sie „dieses Abdriften“ hatte. Wenn sie sehr überlastet war, hatte sie kleinere Aussetzer, die ein bis zwei Minuten andauerten, wo sie unbewegt stehen blieb. Danach sei es ihr emotional nicht gut gegangen. Sie habe nie begriffen, was in diesen Momenten mit ihr passiere. Auch ihre Mitmenschen fanden es komisch: „Manche haben es als Winterstarre bezeichnet.“

Nach ihrer Diagnose habe sie angefangen, sich selbst besser zu verstehen. „Mir wurde klar, dass diese Anfälle nicht aus heiterem Himmel kommen“, sagt Lena. Sie hätten einen Vorlauf, oft durch eine starke Überreizung. Heute kann sie es erkennen, wenn eine Situation schwierig für sie wird, und dies ihren Mitmenschen besser vermitteln. „Ich brauche immer noch Tage, um mich davon zu erholen“, sagt Lena. „Aber früher hatte ich das schon, wenn ich 20 Minuten mit zehn Menschen in einem Raum war. Das habe ich heute gar nicht mehr.“

Mit Gleichaltrigen tat sie sich schwer

Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben oft auch andere psychische Erkrankungen. So hatte Lena immer wieder depressive Phasen. Erst in der siebten Klasse habe sie eine Lehrerin bekommen, die sie unterstützt hat. „Sie hat mir beigebracht, wie ich mich nicht mehr ärgern lasse“, sagt Lena. „Aber mit Gleichaltrigen konnte ich trotzdem nichts anfangen.“

Heute fallen ihr Arbeit und Alltag leichter. „Ich erlebe mich persönlich weder als krank noch als behindert“, sagt Lena. Trotzdem findet sie es wichtig, dass Autismus-Spektrum-Störungen in den Diagnosehandbüchern stehen wie dem ICD-10. „Wir haben eine besondere Situation. Viele Autisten brauchen Hilfe“, sagt sie. Und die gebe es in Deutschland nicht ohne Diagnose.

Forschung zu Autismus-Spektrum-Störungen

Symptomatik
Symptome können auch intensive und ungewöhnliche Interessen sowie Unterschiede in der Verarbeitung von Sinnesreizen sein. Helle Lichter, Lärm und Berührungen durch andere Menschen stressen Autisten häufig stark. Die Psychologinnen Uta Frith und Francesca Happé zeigten in mehreren Studien zudem, dass Autisten „eher Bäume anstatt den Wald sehen“, sie erfassten gut Details, aber eben nicht das große Ganze.

Intelligenz
In einer Studie zeigten der Psychiater Laurent Mottrons und sein Team, dass Autisten in einem Intelligenztest, bei dem die Probanden geometrische Figuren nach logischen Regeln ergänzen mussten, um 40 Prozent schneller waren als die nicht autistischen Probanden. Viele Experten halten sie deshalb zum Beispiel für sehr gute Wissenschaftler, auffällig sind sie also lediglich bei sozialen Interaktionen. (nay)