Mutter-Kind-Kuren haben eine lange Tradition. Väter, die das Gleiche wollen, müssen manchen Widerstand brechen. Wie erleben Männer diese Auszeit? Ein Besuch in einer Klinik im Odenwald.
Weit und breit nur Wälder und Natur. Nichts, das sonst ablenken könnte. Hier, im Gesundheitszentrum an der Höhle im Odenwald, sollen gestresste Elternteile und ihre Kinder zur Ruhe kommen. Steffen Kreß ist Geschäftsleiter der Klinik. „Das Besondere ist, dass wir mitten in der Pampa liegen.“ Die Klinik zwischen Heilbronn und Würzburg ist eineinhalb Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt. „Wer sich auf Bummeln in der Stadt freut, ist hier falsch“, sagt Kreß.
Ruhe suchte hier gerade Stefan Mank (37) aus Calbe bei Magdeburg mit seinen beiden Söhnen, sechs und acht Jahre alt. „Der Aufenthalt hatte mehrere Gründe“, erzählt er. Einerseits wollte er mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen. Andererseits wollte er den Stress, der sich in den letzten Jahren angesammelt hatte, abbauen.
Kinder, Beruf, Unterhalt – alles zu viel
Seit zwei Jahren lebt er getrennt von der Mutter seiner Kinder. „Für mich war das Schlimmste, dass vom einen auf den anderen Tag meine Kinder plötzlich weg waren“, erinnert er sich. Der selbstständige Kinder- und Jugendpsychotherapeut stürzte sich in die Arbeit. Die vielen Überstunden in seiner Praxis brachten ihn an den Rand eines Burn-outs, sagt er. „Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, der Familienernährer zu sein und das Haus finanziell stemmen zu müssen, da es das Zuhause meiner Kinder ist“, sagt Mank. Gleichzeitig musste er Unterhalt für seine Söhne zahlen und seine Praxis, die er seit drei Jahren hat, unterhalten.
Nach der Trennung praktizierten er und seine Ex-Partnerin zunächst das klassische Residenzmodell. Die Kinder lebten bei der Mutter. Er sah sie alle 14 Tage und in den Ferien. Je größer die Kinder wurden, desto häufiger äußerten sie den Wunsch, mehr Zeit bei ihrem Vater zu verbringen. „Daher beschlossen meine Ex-Partnerin und ich, dass wir die Kur als Art Neustart sehen und danach im Wechselmodell erziehen möchten.“ Dabei hat das Kind bei jedem Elternteil ein eigenes Zimmer und wechselt sein Zuhause meist im Wochentakt.
Zwischen der Beantragung der Kur und dem tatsächlichen Antritt lagen sechs Monate. Mank nutzte die Zeit, um eine Veränderung vorzunehmen. „Ich habe weniger gearbeitet, auch wenn das finanzielle Einbußen für mich bedeutet hat.“
Lange Tradition – bei Müttern
Mutter-Kind-Kuren haben derweil eine lange Tradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Müttergenesungswerk diese Maßnahme ins Leben gerufen, damit sich vom Stress geplagte Mütter mit ihren Kindern erholen können. Eine Kur dauert drei Wochen und wird bei der Krankenkasse beantragt. „Eine Kur ist kein Urlaub“, betont Kreß.
In der Klinik an der Höhle waren seit der Gründung im Jahr 1994 von Anfang an Männer mit dabei. In den letzten Jahren sind es mehr geworden. Während es 2012 nicht einmal vier Prozent waren, lag die Quote zehn Jahre später bei fast neun Prozent. „Die Hürde für eine Kur ist bei Vätern höher“, sagt Kreß. Männer müssen bei ihrer Krankenkasse vorweisen, dass sie den Großteil der Erziehungsarbeit leisten. Kreß sieht einen Unterschied bei der Herangehensweise. „Männer konzentrieren sich mehr darauf, ihre Probleme anzugehen. Frauen vergleichen sich sehr mit anderen Müttern, lenken teils von sich selbst ab“, sagt er.
„Eine Quote gibt es bei uns nicht“
Eine Quote gibt es in der Klinik an der Höhle nicht. „Bei uns ist jeder willkommen“, sagt Kreß. Das Beantragen einer Vater-Kind-Kur sei schambehaftet. „Die Stigmatisierung ist immer noch groß. Väter dürfen keine Schwäche zeigen“, beschreibt Kreß den gesellschaftlichen Konflikt. Beruf und soziale Prägung spielten hierbei eine große Rolle. „Bei einem Sozialarbeiter ist die Akzeptanz größer als bei einem Bauarbeiter oder einem Metzger.“ Witze und Neckereien der Kollegen seien keine Seltenheit.
Simon Schneidereit kann das so nicht bestätigen. Der 38-jährige Dachdecker habe von seinen Kollegen viel Zuspruch erfahren, als er ihnen mitteilte, dass er mit seinen beiden Kindern auf Kur geht. „Meine Kollegen sagten mir: Ihr habt euch die Ruhe verdient. Nutzt die Zeit, um den Schmerz und die Trauer zu verarbeiten“, erinnert er sich. Vor einem Jahr starb seine Ehefrau nach einer Krebserkrankung. Zuvor hatte er die Mutter seiner Kinder drei Jahre lang gepflegt. „Ich hatte die Dreifachbelastung durch Pflege, Vollzeitjob und Haushalt“, sagt der Familienvater. Für seine Kinder musste er weiter funktionieren. „Meine Batterien waren leer“, sagt er. Die kleine Familie sehnte sich nach einem Tapetenwechsel.
„Alle Mitarbeiter waren von Anfang an sehr freundlich und engagiert“, erinnert er sich an die Aufnahme in der Klinik. Auch von den anderen Müttern, alleinerziehend wie verheiratet, habe er sich als Mann und Vater zu keinem Zeitpunkt unerwünscht gefühlt.
Dabei war die Suche nach einer passenden Vater-Kind-Kur alles andere als einfach. „Viele sind immer noch der Meinung, solche Kuren sind nur für Mütter, Väter bräuchten das nicht“, sagt er. Er führte rund zehn Gespräche mit verschiedenen Kliniken deutschlandweit – ohne Erfolg. „Es fielen Sätze wie ‚Wir wollen keine sexuellen Handlungen haben. Wir haben nicht die Räume, um Männer und Frauen zu trennen‘.“
Vorurteile sind Unfug
Diese Vorurteile hält er für Unfug. „In der Gesellschaft leben Männer und Frauen ja auch zusammen“, sagt er. Auch die Unterstützung seitens seiner Krankenkasse hielt er für ungenügend. „Sie gaben mir zwei DIN-A4-Seiten mit möglichen Kuren und wünschten mir viel Glück“, berichtet er. Für sie sei es damit erledigt gewesen.
Dabei war die Auszeit nicht nur für ihn, sondern auch für seine Kinder wichtig. Seine Tochter Ida hat durch den Verlust ihrer Mutter eine Angststörung entwickelt. „Ich habe Angst, dass meinem Papa etwas passiert“, sagt die Elfjährige. „Sie fürchtet ständig, dass ich auch krank werde oder einen Unfall habe“, ergänzt ihr Vater.
Sein Sohn Mads leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Der Neunjährige musste aufgrund seiner Konzentrationsprobleme bereits die erste Klasse wiederholen. „Dass die Klinik speziell ADHS-Workshops anbietet, war perfekt. Wir haben viel Hintergrundwissen bekommen, wie die Erkrankung entsteht, aber auch, wie ich meinem Sohn damit helfen kann, besser durch den Alltag zu kommen, ohne Tabletten“, sagt Schneidereit. Mads hat eine leichte Sprachstörung. Während er redet, geht er nervös mit seinen Händen über seine Jeans, neigt seinen Kopf von einer Seite auf die andere.
Damit Eltern mit schulpflichtigen Kindern ihren Kuraufenthalt nicht zwingend in den Ferien abhalten müssen, bietet die Klinik neben der Kita auch eine schulische Betreuung. „Die Lehrer in der Schule hier kennen den Namen jedes einzelnen Kindes und wissen, welchen Lernbedarf sie haben. Die Mitarbeiter leisten eine unglaubliche Arbeit“, sagt Schneidereit. Mads fand den Unterricht hier besser als zu Hause. „Es gibt mehr Pausen und weniger Schulstunden“, sagt er. Das helfe ihm mit seinen Konzentrationsproblemen.
Während die Kinder verschiedene Sport-, Entspannungs- und Konzentrationsübungen machen, werden den Eltern in Erziehungsworkshops neue Perspektiven aufgezeigt. Doch am hilfreichsten fand Schneidereit den Austausch mit den anderen Eltern. „Die Gespräche waren unglaublich informativ und interessant. Da habe ich viel mitnehmen können.“
Der Tag beginnt hier um 7 Uhr. Aufstehen, frühstücken, Schulbeginn. Während die Kinder in der Schule sind, hat Schneidereit verschiedene Anwendungen. Sein sportliches Highlight? Die Aqua-Gymnastik. „Ich habe ganz neue Muskeln an mir kennengelernt, die vorher, glaube ich, gar nicht da waren“, sagt er und lacht. Danach hole er seine Kinder ab, die Nachmittage verbringen sie gemeinsam mit Basteln, Schwimmen, Spazierengehen und Fußballspielen. „Meine Angst, wieder in Stress zu verfallen, sobald wir zu Hause ankommen, ist riesig.“
Zu Hause sieht der Tag anders aus. Nach der Schule sind die Kinder meistens bei ihrer Großmutter. „Meine Mutter ist in Frührente gegangen, um auf die Kinder aufzupassen und mich zu unterstützen“, sagt Schneidereit. So sei es ihm möglich, weiterhin Vollzeit zu arbeiten. Dadurch, dass sie ein Jahr früher in Rente gegangen ist, habe sie finanzielle Einbußen. „Das finde ich ungerecht, da sie nicht aus Faulheit früher in Rente gegangen ist, sondern um uns in dieser Notsituation zu unterstützen“, sagt Schneidereit. Vom Staat wünsche er sich mehr Unterstützung. „Solche Schicksalsschläge interessieren niemanden. Man ist völlig auf sich allein gestellt“, kritisiert er.
Individuelle Ziele setzen
Vor Beginn der Kur erhalten die Patienten eine Einladung und dürfen einen aus fünf Schwerpunkten wählen: Orthopädie, Psychosomatik, Familie, Stoffwechsel und Atmung. Zudem steckt sich jeder Patient ein individuelles Ziel.
Auch die beiden Kinder hatten sich am Anfang der Kur ein Ziel gesetzt. Mads hatte sich vorgenommen, sich besser zu konzentrieren. Ida wollte ihre Ängste bewältigen. Ganz geschafft habe sie das nicht. „Wir arbeiten gemeinsam daran, dass es besser wird“, sagt Schneidereit. Durch die Kur habe er seine Akkus behutsam aufladen können. „Es bringt mir zwar meine Frau nicht wieder zurück, aber wir gehen gestärkt nach Hause“, sagt der Familienvater.
Welches Ziel?
Psychologin Ramona Trautz arbeitet seit fünf Jahren in der Klinik an der Höhle. „Die Belastung, die Väter haben, kann genauso groß sein wie die der Mütter. Sie ist vielleicht anders verteilt, aber am Ende des Tages ist Belastung gleich Belastung“, sagt sie. Dass immer mehr Männer eine Kur machen, hält die Psychologin für eine Bereicherung. „Gerade in Gruppentherapien haben Männer oftmals einen anderen, pragmatischeren Blick auf die Dinge.“ Die Unterschiede zwischen Vätern und Müttern seien nicht allzu groß. „Den Müttern erkennt man die Überlastung schneller an, und sie stürzen direkt mit all ihren Problemen hervor.“ Männer seien verschlossener.
Männer werden reflektierter
Doch das ändere sich. „Männer sind reflektierter in ihrer Situation als noch vor ein paar Jahren.“ Sie fühlten sich häufig gestresst durch ihren Beruf. Gleichzeitig wollten sie den Erwartungen in der Partnerschaft und Kindererziehung gerecht werden. Mütter hingegen fühlten sich mit dem Haushalt überfordert und in der Erziehung alleingelassen.
„Die Aufweichung der Rollen stellt für viele eine Herausforderung dar“, sagt sie. In der Gesellschaft herrsche immer noch das Bild vor, Männer müssten sich nur um ihre Erwerbsarbeit kümmern und hätten ansonsten frei. „Dem ist aber nicht so“, betont Trautz und erklärt: „Viele Väter leisten auch ihren Anteil im Haushalt und bei der Kindererziehung.“