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Erika Micale, Kämpferin für die Rechte von Homosexuellen, erhält im Rathaus die Ehrennadel des Landes. Jetzt will sie die Aufmerksamkeit nutzen, um auch in den Kirchen eine Öffnung zu erreichen.

Stuttgart - Heute sieht Erika Micale (69) alles mit anderen Augen. Aber damals, vor 25 Jahren „ist eine Welt in mir zusammengebrochen“. Unter dem Kopfkissen ihres jüngsten Sohnes fand sie einen Liebesbrief. Nichts Ungewöhnliches, so denkt man. Bei einem pubertierenden Jungen kann es so etwas schon geben. Nur in diesem Fall war der Adressat ein erwachsener Mann.

Wie jede Mutter fragte sie sich: „Was soll ich jetzt machen?“ Schließlich hatte sie beim Thema Homosexualität stets nur negative Gedanken. Erschwerend kam hinzu: Ihr Mann Stefano ist Sizilianer – streng katholisch und konservativ erzogen. „Anfangs hatte ich Angst, er bringt ihn um“, sagt Micale. Nach langer innerer Marter fasste sie sich ein Herz. Sie ging auf Claudio zu und fragte: „Wie kann ich dir helfen?“

Der Junge reagierte extrem. Er sprach zwei Jahre nicht mit seiner Mutter und zog sich zurück. „Es war fatal“, erinnert sie sich. „Er hat es als Einmischung in seine Privatsphäre empfunden und mich unter anderem damit bestraft, indem er meine Post geöffnet hat.“

Zwei schwule Söhne

Damit nicht genug. In diesen zwei Jahren erlebte Erika Micale noch einen weiteren Schlag. „Eines Tages kam mein Ältester auf mich zu, weil er sich einen Ohrring stechen lassen wollte“, erinnert sie sich. Damals sagte man flapsig: Ein Ohrring rechts ist cool – links ist schwul. Also fragte sie Antonio: „Bist du etwa auch anders herum?“ Das Wort schwul brachte sie in dieser Zeit noch nicht über die Lippen. Antonios Antwort lautete „Ja“. Erika Micale stand plötzlich mit der Tatsache im Leben, zwei schwule Söhne zu haben. „Anfangs hatte ich nur geheult. Ich habe mich gefragt, wofür werde ich bestraft, was habe ich falsch gemacht?“

So dachte man in den 1990er-Jahren. Heute würde wohl kaum eine Mutter von homosexuellen Kindern in eine derartige Krise schlittern. Die Zeiten haben sich verändert – auch dank Erika Micale. In ihrer damaligen Not suchte sie die Hilfe und Stütze einer Selbsthilfegruppe. Kaum ein Jahr später leitete sie die Stuttgarter Gruppe bis 2010 und ist bis heute im Bundesverband von Eltern und Angehörige von Homosexuellen (BEFAH) tätig.

Erika Micale gilt als Pionierin im Kampf um Rechte für Schwule und Lesben. Dies hat die Stadt Stuttgart nun gewürdigt. In Vertretung von Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) hat die Bezirksvorsteherin des Stadtbezirks Mitte, Veronika Kienzle, Erika Micale im Rathaus mit der Ehrennadel des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. „In einer modernen Gesellschaft und Demokratie ist für Diskriminierung kein Platz. Das ist kein Selbstläufer. Toleranz muss gelernt und manchmal auch erstritten werden. Unerschrocken und mit Liebe gegenüber denen, deren Rechte für eine Gleichbehandlung noch immer erkämpft werden müssen“, sagte Kienzle. „Wir wollen Sie daher ehren, weil Sie sich seit weit mehr als zwei Jahrzehnten für die Gleichstellung Homosexueller engagieren. Weil Sie sich auf vielfältige Weise und mit großem Engagement für die Akzeptanz und Toleranz gegenüber homosexueller Lebensweisen in Kirche und Gesellschaft eingesetzt haben.“

Landeskirche ringt um Lösung

Die Lobrede mag so klingen, als hätte sich inzwischen die Kämpferin Micale in den Ruhestand verabschiedet. Das Gegenteil ist der Fall. Vor allem gegen die Kirchen will sie noch so manche Schlacht schlagen. „Es kann doch nicht sein, dass die Kirchen Motorräder und Tiere segnen, aber Menschen nicht“, sagt sie und spielt auch auf den aktuellen Streit in der evangelischen Landeskirche an. Die Protestanten wollen auf ihrer Herbsttagung von 27. bis 30. November im Hospitalhof entscheiden, ob auch homosexuelle Paare den Segen für ihre Partnerschaft von einem Pfarrer bekommen können.

„Dass die konservativen Kreise das ablehnen, geht gar nicht", sagt sie. „Ausgerechnet die, die das Familienbild immer so hoch halten und hochloben, spalten dadurch Familien.“ Ein bisschen macht ihr diese Haltung auch Sorge: „Wohin soll das führen?“ Nicht nur in der Kirche – auch gesellschaftlich. „Wenn man hört, dass europaweit wieder die Nazis auf dem Vormarsch sind, ist es vielleicht nicht weit, bis wieder Schwule verklopft werden.“

Genau diese Haltung bewundert Veronika Kienzle an Erika Micale, die sie als „Mutmacherin“ bezeichnet. „Ihr Engagement für eine tolerante Gesellschaft ist Friedensarbeit an den Grundfesten für das gesellschaftliche Zusammenleben“, sagte Kienzle. „Die Toleranz und die rechtliche Gleichstellung schwuler, lesbischer, bisexueller, transsexueller, transgender und intersexueller Menschen ist ein Prüfstein der freiheitlichen offenen Gesellschaft. Dieser Gleichheitsgrundsatz muss auch für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften und deren Wunsch als Familie mit Kindern anerkannt zu werden, gelten. Sie haben mit dazu beigetragen, dass in Deutschland gleichgeschlechtliche Menschen heiraten und Familien gründen können.“

Dass Württemberg, speziell die evangelische Landeskirche, diesen Grundsätzen noch hinterherhinkt, treibt Erika Micale an, nicht nachzulassen: „Das ist der letzte Kampf, den ich noch führen möchte.“