So sieht eine Mauereidechse aus. Foto: dpa/Christoph Schmidt

Ab und zu raschelt’s zwischen den Gleisen des früheren Stuttgarter Güterbahnhofs. Tausende Mauereidechsen gibt es dort noch, Tausende sind bereits umgezogen. Denn die Reptilien sind geschützt und müssen weg, um für Stuttgart 21 nicht zum Problem werden.

Stuttgart - Wenn Sascha Koslowski für das milliardenschwere Bahnprojekt Stuttgart 21 unterwegs ist, hat er meist Plastikeimer, Angelrute, Zahnseide und den einen oder anderen Becher mit dabei. So ausgerüstet schlendert der 42-Jährige über die stillgelegten Gleise des früheren Stuttgarter Güterbahnhofs. Er richtet den Blick dabei streng auf den überwucherten Schotter, auf die Steinhaufen und rostigen Schienen.

Ab und zu bleibt er abrupt stehen, bückt sich und wird fündig. Mit seinem Team sammelt der Geoökologe im Auftrag der Bahn seit mehreren Wochen Hunderte kleine Mauereidechsen ein. Sie sollen beim Bau des Bahn-Megaprojekts Stuttgart 21 nicht zu einem größeren Problem werden, als sie es für die Bauherren bislang eh schon gewesen sind.

Mindestens 4300 der grob geschätzt mindestens etwa 140 000 erwachsenen und streng geschützten Mauereidechsen Stuttgarts sollen auf dem zehn Hektar großen Areal zu Hause sein. Reicht nicht, sagt Koslowski, er rechnet mit deutlich mehr Exemplaren. „Wir haben in den ersten drei Sammelwochen im Jahr 2021 bereits 2000 Stück eingesammelt. Hochgerechnet könnten hier bis zu 10 000 Exemplare leben.“

Ein paar Tiere werden wohl bleiben

Am Ende der Aktion sollen die meisten der wieselflinken Exemplare eingesammelt und umgesiedelt sein. Nicht alle, denn das Areal ist zu allen Seiten offen. „Man bekommt so eine Fläche nicht hermetisch abgeriegelt. Auch deshalb gehen wir davon aus, dass am Ende ein geringer Prozentsatz des Bestands nicht gefangen wird“, sagt der Experte des Karlsruher Planungsbüros Mailänder Consult. Die Bahn spricht dann von „natürlichem Lebensrisiko“.

Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Stuttgarts OB Nopper lehnt S-21-Zusatzbahnhof ab

Über das gesamte Areal hat sein Team vor einigen Wochen insgesamt rund 1500 Plastikbecher im Boden versenkt. Becher, wie sie normalerweise bei großen Open-Air-Konzerten am Getränkestand ausgegeben werden. „859“ steht mit schwarzem Filzschreiber auf dem Behälter, den Koslowski nun aus dem Erdreich hebt, eine Mauereidechse lümmelt sich darin. „Sie fallen hinein und kommen nicht mehr hinaus“, erklärt er. „Täglich gehen wir alle Becher ab und schauen, ob wieder eine Eidechse drin ist.“ Löcher im Becherboden verhindern, dass sich Regenwasser staut. Und an Wochenenden, wenn das Team Pause macht, können Eidechsen über Holzstifte aus ihren Fallen krabbeln.

So werden die Echsen gefangen

Es sind einfachste Mittel, mit denen die Bahn versucht, den wieder und wieder verzögerten Zeitplan für das Vorzeigeprojekt Stuttgart 21 endlich einzuhalten. Mal greifen die Sammler auch zu umfunktionierten Blumenkästen, zu Schwämmchen, oder sie nutzen die bloße Hand. Und immer wieder auch die Angel. Dann erstarrt Koslowski mitten im Schritt über die verwitterten Holzschwellen der Gleise, bringt mit ruhiger Hand die kleine Schlinge aus gewachster Zahnseide an seiner Rute über dem Tier in Stellung, streift sie im besten Fall über den Echsenkopf und zieht sie vorsichtig hoch. Das funktioniert bei weitem nicht jedes Mal.

Das Ziel von Stuttgart 21: Im neuen Tiefbahnhof sollen die Züge ab dem Jahr 2025 nur auf der Durchreise sein. Das spart Zeit und soll die Taktung auf den künftig nur acht Gleisen ermöglichen. Unmöglich sei das, sagen die Gegner, sportlich, meinen die Kritiker, und die Bahn gibt sich gelassen und spricht von ausreichenden Reserven. Kernstück des Kreislaufs rund um den Tiefbahnhof ist nach den Plänen der Bahn die Eidechsenheimat am alten Güterbahnhof. Dort sollen die Nah- und Fernzüge verteilt, gedreht, gereinigt oder aufs zeitweise Abstellgleis gelenkt werden.

Baugenehmigung fehlte lange

Kein Areal - kein Ringkonzept, ganz einfach. Dann würden die Wege der Züge länger, die Fahrtzeiten auch, es müssten mehr Lokführer eingesetzt werden, die Kosten würden steigen, und der Zeitplan wäre erneut über den Haufen geworfen. „Ohne den Abstellbahnhof lässt sich Stuttgart 21 nicht wirtschaftlich betreiben“, heißt es bei der Bahn. „Und es gibt keine sinnvolle Alternative dazu.“

Lange fehlte die Baugenehmigung, weil sich einige Anwohner und vor allem die meisten Umweltschützer auflehnten. Während die Anwohner den Bau und den Lärm fürchteten, verstießen die Pläne der Bahn nach Ansicht der Umweltschützer zunächst gegen den Artenschutz. Denn umgesiedelt werden dürfen die Stuttgarter Reptilien nach einer Vorgabe des Regierungspräsidiums nur in der sogenannten Gebietskulisse. Das ist kostspielig und aufwendig. Vor allem aber fehlt es im eng besiedelten Stadtgebiet an Flächen. Die Bahn prüfte insgesamt rund 200 Flächen und wurde schließlich fündig.

Zweistellige Millionensumme für Umsiedlung und Artenschutz

Am Ende einer langen Debatte erlaubte ihr das Eisenbahnbundesamt vorläufig, die Tiere noch vor der eigentlichen Entscheidung über den Bau der Abstellanlage einzusammeln und auf zwei neue Ersatzhabitate an der Panoramastrecke der Gäu- und an der sogenannten Schusterbahn umzusetzen. Der Abstellbahnhof habe „Relevanz für die Inbetriebnahme des Gesamtvorhabens Stuttgart 21“. Außerdem sei eine Genehmigung des Baus „überwiegend wahrscheinlich“.

Eine hohe zweistellige Millionensumme hat die Bahn für die Umsiedlung von Eidechsen und den Artenschutz insgesamt im Rahmen von Stuttgart 21 und der ICE-Neubaustrecke Stuttgart-Ulm eingeplant, genaue Zahlen nennt sie nicht. Das Ganze werde nicht durch das Einfangen so teuer, heißt es vom Konzern, sondern auch durch die Planung, Beobachtung, Vertreibung und die Beschaffung von neuen und artgerechten Habitaten.

Selbst schuld, meint Nabu-Landeschef Johannes Enssle. Er wirft der Bahn ein „reines Planungsversagen“ vor. „Man hätte sich viel früher um die Fragen des Artenschutzes kümmern können und müssen.“ Auch Enssle hält Kosten von bis zu 4000 Euro pro Eidechse für schwer vermittelbar. „Aber welches Preisschild gibt man dem Artenschutz?“, sagt er zum teuren Versuch der Bahn, artgerecht umzusiedeln.

Nabu-Fachbeauftragter ist skeptisch

Artgerecht, das soll zum Beispiel die sogenannte Zwischenhälterung in Nellingen sein, ein gepachtetes und umgebautes Terrarium am Rand eines Ackers. Das mehr als 3600 Quadratmeter große Reptilien-Paradies ist mit Totholz ausgebaut, es liegen Misthaufen herum, Sandflächen zur Eiablage und Steine zum Sonnen oder Verstecken. Netze als Dach und Bleche als Banden im Boden sichern die einst rund 570 wechselwarmen Bewohner gegen natürliche Feinde. Für jedes Exemplar sind 18 Quadratmeter Platz eingeplant. Gesamtkosten des Projekts: 1,5 Millionen Euro. Zehn Jahre lang werden die Eidechsen dort gehalten, dann kommen die Nachkommen der einst umgesiedelten Kriechtiere zurück in ihren angestammten Lebensraum.

Ortswechsel, das Stuttgarter Nobelviertel Killesberg, Villenlage, Blick über den Talkessel. Hier schuf die Bahn 2017 ein Ersatzhabitat für 2500 Mauereidechsen, das sie nun 25 Jahre lang hegen und pflegen muss. Sehr zum Ärger einiger Anwohner, weil die Flächen für Eidechsen auf den ersten Blick prächtig aussehen, für’s Auge dagegen weniger ansehnlich sind als die Wiese zuvor.

Und sehr zum Unverständnis des Nabu-Fachbeauftragten für Reptilien, Hubert Laufer. „Umsiedeln bei Eidechsen ist mittlerweile leider zum Standard geworden“, sagt er. „Aber ich kenne kein Projekt, wo ich sagen würde, dass es funktioniert hat.“ In vielen Fällen verließen Eidechsen ihr neues Terrain. Am Killesberg habe er gehört, dass die Kriecher die Insekten in den Gärten fräßen, und für einen großen Teil der Tiere sei der Umzugsstress eh tödlich. Er hätte es besser gefunden, hätte man angesichts ihrer weiter steigenden Zahl die allochthonen - also die gebietsfremden - Mauereidechsen vernachlässigt und sich stärker um die stark bedrohten Zauneidechsen gekümmert. „Hier hätte sich die Bahn mehr ins Zeug legen können, um eine sinnvolle Lösung mit der Genehmigungsbehörde zu erlangen“, sagt Laufer.