Sie waren die Redner im Bürgerhaus: Thomas Friedemann, Eckart Rosenberger, Peter Mauch, Benedikt Paulowitsch, Markus Lämmle und Dirk Braune (von links) stellten sich online den Fragen von Bürgern, die zu Hause am Bildschirm saßen. Screenshot: Roland Böckeler

Wie geht es weiter mit dem geplanten größten Baugebiet der Gemeinde? Der im März wegen der Corona-Pandemie abgesagte „Bürger-Planer-Dialog“ lockt als virtuelle Ausgabe vor den Computer. Mit überraschenden Zuschauern.

Kernen - Dass die Entwicklung der Hangweide zum neuen Wohngebiet in Kernen auf Interesse stößt, verwundert nicht. Denn eines Tages sollen dort, zwischen den Teilorten Stetten und Rommelshausen, etwa 1200 Menschen leben in einem Quartier, das Vorbildcharakter hat. Auch bei der Internationalen Bauausstellung 2027 Stadt-Region Stuttgart, kurz IBA. Aber dass sich sogar Menschen aus Heidelberg und Augsburg, aus Wien und Graz und selbst aus London zeitgleich informieren können, das hat ein kleines Virus namens Corona geschafft.

Die Bürgerbeteiligung wird in Sachen Zukunftsprojekt Hangweide, wie es die Gemeinde nennt, von Anfang an groß geschrieben. Ein zweiter „Bürger-Planer-Dialog“ im März fiel coronabedingten Einschränkungen zum Opfer, stattdessen lud die Verwaltung für Donnerstag zum „digitalen Dialog“ ein. Ein klassischer Dialog wurde es aber nicht. Denn Planer wie Bürger saßen vor heimischen Bildschirmen, schriftlich eingereichte Fragen wurden von Fachleuten beantwortet, die mit Abstand zueinander im Bürgerhaus präsent waren und in die Kamera sprachen, nicht wissend, wer zuschaut.

Hoher Bedarf an Wohnraum bleibt

Rund 100 Teilnehmer wurden letztlich gezählt, sie erlebten, dass die Notlösung Online-Austausch Vorteile hat: War für März zur Inspiration noch ein Rundgang über das Hangweide-Areal geplant, wurden nun aufwendig Filme und Bilder erstellt, die im Netz abrufbar bleiben. Eine Drohne nimmt mal die Fußgänger-, dann die Vogelperspektive ein und zeigt die Dimensionen der Hangweide. Es gibt einen interaktiven Rundgang und Videos aus Innenräumen. Das hätte ein einziger Rundgang nicht bieten können. Ein „Jahrhundertprojekt“ sei die Hangweide für Kernen, sagte Bürgermeister Benedikt Paulowitsch. Die drei Projektpartner Gemeinde Kernen, Kreisbaugesellschaft Waiblingen und LBBW Immobilien Kommunalentwicklung haben das Areal für 16,5 Millionen Euro von der Diakonie Stetten erworben. Ein luftiges Bebauen stehe auch in Zeiten, wo Abstand wichtiges Gebot ist, nicht an, beantwortete Paulowitsch eine Zuseherfrage. „Der Bedarf an Wohnraum ist trotz Rezession hoch.“ In Kernen seien zuletzt mehrheitlich Einfamilienhäuser entstanden, ergänzte Peter Mauch, Kernens Beigeordneter. „So schafft man keinen bezahlbaren Wohnraum.“

Im gestarteten städtebaulichen Wettbewerb sind Eckpunkte vorgegeben, an die Markus Lämmle von der LBBW erinnerte: bis zu siebenstöckige Gebäude, mindestens 70 000 Quadratmeter Geschossfläche, 17,5 Prozent geförderter Wohnraum. Es wird also dicht gebaut. Wie an die Hangweide und ihre Geschichte – einst stand hier eine Ölmühle, später eine Fabrik, zuletzt lebten hier Menschen mit Behinderung – künftig erinnert werden soll, das beschäftigte viele Video-Zuschauer. Gebäude dauerhaft erhalten, auch wenn sie vorübergehend etwa noch als Unterkunft für Flüchtlinge genutzt werden, scheint nicht realistisch. „Sie sind weder erhaltenswürdig noch -fähig“, sagte Mauch. Recycelte Materialien wie Beton, Metalle und andere Wertstoffe sollten aber wieder vor Ort verwendet werden, meinte Lämmle. „Für eine Reminiszenz an den Ort braucht es keine Gebäude“, sagte Dirk Braune, Geschäftsführer der Kreisbaugesellschaft Waiblingen. Es gebe Symbole, so sei ein Therapiestein gesichert worden. Durch Inklusion setze man „ein lebendiges Denkmal“. So wird der Anna-Kaiser-Komplex weiterhin betrieben und im Besitz der Diakonie bleiben.

Ein Ort mit emotionaler Bindung

Inklusion spiele eine zentrale Rolle, gewollt sei auch eine „gute gesellschaftliche Durchmischung“, sagte Paulowitsch. Dass die Hangweide einmal „ein autoarmes, aber kein autofreies Gebiet“ werden soll, daran erinnerte der Architekt und Stadtplaner Eckart Rosenberger, einer der Fachpreisrichter beim städtebaulichen Wettbewerb. Das Areal werde über den ÖPNV erschlossen und eine Verbindung zwischen Stetten und Rommelshausen schaffen. „Es ist kein dritter Ortsteil geplant“, hob Thomas Friedemann auf das Verbindende ab. Der Landschaftsarchitekt gehört ebenfalls zum Team der Preisrichter und ergänzte, schon die Landschaft mit dem Beibach verbinde die Orte. Bereits der Entstehungsprozess habe Verbindendes, analysierte der Bürgermeister, der in Sachen Verkehr größer denkt: „Es wird kein Mobilitätskonzept nur für die Hangweide geben.“ Mit einem klaren Nein beantworte er am Abend die Frage nach Raum für Kultur auf der Hangweide: „Da haben wir mit Kelter, Glockenkelter und Bürgerhaus genug.“ Orte der Begegnung, zum Beispiel eine Bibliothek, solle es an der Hangweide aber geben. Es brauche eine „emotionale Bindung“ an diesen Ort, meinte Paulowitsch. Dass es die gibt, zeigten viele der eingereichten Fragen. Das dürfte bei den Planern aus dem In- und Ausland angekommen sein, die den Videoabend verfolgten und nun kreativ werden.

Man wolle den Geist des Geländes erhalten, betonten die Protagonisten im Bürgerhaus. Und „hoffentlich schauen gerade viele Planer zu“, sagte Benedikt Paulowitsch. Wohl im Oktober oder November soll das Preisgericht deren Entwürfe beurteilen, der Gemeinderat dann im Dezember entscheiden. Das Bebauungsplanverfahren danach brauche Zeit, sagte Peter Mauch. „Die Erschließung wird wohl frühestens ab Ende 2021 sein.“