Mit „Little Nemo in Slumberland“ entführt Zeichner Winsor McCay seine Leser ab 1905 jeden Sonntag in eine surrealistische Traumwelt. Foto: Schirn

Die Kunsthalle Schirn inszeniert wilde Comics als Kunst. Die steile These: Winsor McCay, George Herriman und Frank King waren selbst Inspirationsquelle für so manch berühmten Künstler.

Frankfurt - Sanft schlummert der kleine Nemo zu Hause in seinem Bettchen, das plötzlich zu schweben beginnt. Schon erhebt es sich samt dem Bübchen in die Lüfte, Matratze und Laken fallen nach unten, das ganze Bett bricht auseinander. Unsanft katapultiert der Schöpfer dieser chaotischen Bildgeschichte, der US-Zeichner Winsor McCay, seine Figur in eine bunte, surrealistische Traumwelt. König Morpheus, Herrscher über Slumberland, hat das Kind in sein Reich gelockt. Der Grund: Seine Tochter, die Prinzessin, braucht einen Spielgefährten. In McCays Comic-Serie „Little Nemo in Slumberland“, die wöchentlich ab 1905 in der US-Zeitung „The New York Herald“ erschien, erlebt der kleine Träumer immer wieder aufs Neue fantastische Abenteuer. Diese und andere Geschichten machten Winsor McCay nicht nur berühmt, sondern auch zu einem der Stammväter aller Comicstrips .

Aber ist das nun Kunst, oder kann das weg? Diese Frage hat sich auch die Frankfurter Kunsthalle Schirn gestellt und präsentiert nun die Antwort: Ja, das ist Kunst. Und was für eine! Mit 230 seltenen Comic-Seiten von sechs prägenden US-Zeichnern aus der Zeit von 1905 bis 1940 macht die Schirn den Comic als eigene, höchst innovative Kunstform zum Thema. Die Ausstellung „Pioniere des Comics“ macht klar: Zeichner wie Winsor McCay, George Herriman und Frank King haben die Kunstwelt mit gesellschaftskritischen und waghalsigen Bildexperimenten revolutioniert.

Ist das Kunst, oder kann das weg?

Da fliegen etwa Kanonenkugeln dem Betrachter direkt entgegen, ein Elefant rückt immer näher, bis die Stoßzähne die Papieroberfläche zu zerreißen drohen. Gerade McCay lotet schon früh neue Formen aus und lässt das Medium sich selbst reflektieren. Mal essen seine Figuren vor lauter Hunger Überschriften auf, mal kämpfen sie gegen falsch gezogene Linien. Seine Comicwelt wirkt wie eine Bebilderung von Sigmund Freuds Traumdeutung. Nach Einschätzung der Kuratoren schafft McCay damit lange vor der Blüte des Surrealismus die ersten surrealistischen Bilder der Kunstgeschichte. Also nicht etwa in den frühen Skizzen eines Künstlers wie Salvador Dalí oder 1916 bei den Dadaisten in der Schweiz finden sich erste Ansätze diverser Stile – sondern in den Comicstrips der etwas anderen Avantgarde.

Deren kunstvolle Bildgeschichten erschienen aber nicht in Comicheften, sondern im Massenmedium des frühen 20. Jahrhunderts: der Zeitung. Zu dieser Zeit ist der Comic in den USA ein sich neu entfaltendes Medium in der aufstrebenden Unterhaltungsindustrie. Auf dem umkämpften Zeitungsmarkt entscheidet sich der Erfolg eines Blatts nicht an den Leitartikeln, sondern an der Popularität ihrer Comics. Überdimensional und kunstvoll koloriert, beeindrucken die erhaltenen Zeitungsseiten bis heute. Auf 58 mal 42 Zentimetern, dem damals gängigen Seitenformat, herrschte eine künstlerische Freiheit, die es den Zeichnern erlaubte, mit Gestaltung, Erzähl- und Stilformen zu experimentieren.

Nicht nur wirkten die Comic-Pioniere mit ihren Experimenten auf die bestehende Kunst ein, sie ließen sich auch von ihr inspirieren. So verändert sich der Zeichenstil des Comic-Pioniers Cliff Sterrett während seines Aufenthalts in der Künstlerkolonie Ogunquit in Maine. In seinem Hauptwerk „Polly And Her Pals“ probiert er für eine kurze Zeitdauer moderne Formen aus: Plötzlich streifen seine Figuren durch psychedelische Wälder, in denen fantastische Pflanzen wachsen. Alles wirkt abstrakt und kubistisch.

Künstlerische Freiheit auf 52 mal 42 Zentimetern

Obwohl McCay und Sterrett einem Millionenpublikum bekannt waren, hat sie die Kunstgeschichte lange völlig ignoriert. Noch immer sind Comic und Kunst für Kritiker ein Gegensatzpaar. Das könnte am Ruch des Kindischen liegen, der Bildgeschichten bis heute anhaftet. Der stammt aus dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Comichefte, das im Amerika der 1930er Jahre anbricht. Kostümierte Helden wie Superman, Captain America und Wonder Woman sind prompt bei Kindern und Jugendlichen beliebt, bei Pädagogen dagegen verhasst.

Schon damals gibt es keine klaren Grenzen zwischen kunstvoller Unterhaltung und unterhaltender Kunst. Das zeigt sich beim wohl anspruchsvollsten Comic dieser Zeit: „Krazy Kat“ erobert im Sturm eine intellektuelle Leserschaft. Die reicht vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson bis hin zum spanischen Maler Pablo Picasso. Aber der Strip von George Herriman dient auch als Vorlage für etliche Katz-und-Maus-Slapsticks wie „Tom und Jerry“.

Der Plot von Krazy Kat ist einer der einfachsten: Die Katze liebt die Maus. Die hasst aber die Katze. Dafür liebt der Hund die Katze, die wiederum den Hund ignoriert. Eine komplexe und absurde Erzähllogik, die Herriman mit einer Poesie beschreibt, die an Shakespeare erinnert. Auch der Hintergrund ändert sich. Mal wechselt die Landschaft, dann die Requisite, auch wird der Tag mal abrupt zur Nacht. Als Herriman die Wüstengegend Arizonas für sich entdeckt, spielt Krazy Kat fortan in einer Wüsten-Kulisse mit Tafelbergen. Die künstlerische Freiheit, die Herriman im Comic etablierte, sucht bis heute ihresgleichen.

Große Kunst zwischen Realitätsflucht, Poesie und Politsatire

Der Kurator der Ausstellung, Alexander Braun, hat die einzelnen Zeitungsseiten als Kunstwerke inszeniert: Eingefasst in mal schlichten, mal verschnörkelten Holzrahmen, sollen die Comics vor einfarbigem Hintergrund ganz für sich wirken. Das Highlight der Ausstellung nutzt die Architektur des Saals: Entlang der Wand sind die Strips von „Gasoline Alley“ auf einem Zeitstrahl angebracht. Darin erzählte Frank King ab 1921 quasi in Echtzeit die Geschichte vom Findelkind Skeezix, mehr als drei Jahrzehnte lang, täglich, von Montag bis Sonntag. Der Betrachter sieht im Vorbeischreiten Skeezix weiter heranwachsen.

So haben die Zeichner über Jahrzehnte hinweg die Ereignisse ihrer Zeit künstlerisch begleitet. Mal halfen sie dem Leser, vor der Realität in eine Traumwelt zu fliehen, mal kritisierten sie Politik und Gesellschaft. Nach der Reise durch die Welt der wilden Bilder stolpert der Besucher benommen – wie der kleine Nemo am Ende eines Traums – ins Nichts und landet auf dem Boden der Tatsachen. Wieder zurück, will man diese Bildgewalt nicht mehr missen – und muss das auch nicht, denn die Ausstellung bleibt im Kopf.