Die Familie Tham betrieb in Jungbuch im Riesengebirge eine Landwirtschaft. Die Symbolfigur dieser Gegend ist auch hierzulande ein Begriff: Rübezahl. Foto: Steinert

Vor 70 Jahren kamen die ersten Vertriebenen in Eislingen an. Eine Schau in der Stadtbücherei im Schloss beleuchtet dieses Kapitel Stadthistorie.

Eislingen - Mit fast nichts als den Kleidern am Leib sind sie am 15. März 1946 in Eislingen gestrandet. In Viehwaggons waren sie aus Mittel- und Osteuropa geflohen. 1440 Männer, Frauen und Kinder musste die Stadt an jenem Tag unterbringen. Schulen wurden auf die Schnelle zu provisorischen Aufnahmelagern umfunktioniert. Und der Strom an Flüchtlingen und Vertriebenen riss nicht ab. Bis 1953 schaffte es das kleine Eislingen, 4700 Menschen aufzunehmen. Das entspricht einem Bevölkerungszuwachs von 20 bis 25 Prozent – eine gewaltige Leistung. 70 Jahre nach der Ankunft der ersten Flüchtlinge in Eislingen zeigt das Stadtarchiv im Rahmen der „Wochen der Vielfalt“ in der Stadtbücherei im Schloss die Ausstellung „Vertreibung in ein Paradies?“.

Überall herrschen Mangel und Entbehrung

Der Titel der Ausstellung ist Joseph Mühlberger entlehnt. Der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Publizist (1903 bis 1985) ist der bekannteste Heimatvertriebene Eislingens. Nach seiner Flucht aus dem böhmischen Trautenau war er in die neue Heimat gekommen, die, so schreibt er, „mir aber längst alte Heimat war, in das Land zu Füßen des Hohenstaufen, in die Landschaft Schillers, Hölderlins, Mörikes, Hesses. Das war schließlich wie die Vertreibung in ein Paradies“.

Konzipiert hat die Schau der Eislinger Stadtarchivar Martin Mundorff in Zusammenarbeit mit Jürgen Kettenmann, dem früheren Museumswart des Göppinger Stadtmuseums. Sie zeigen, dass die Flüchtlinge nach dem zweiten Weltkrieg, der ganz Europa in Schutt und Asche gelegt hatte, sicher nicht in einem Paradies ankamen. Überall herrschten Mangel und Entbehrung, und den Neuankömmlingen schlugen oft Vorbehalte entgegen. Dennoch sei es gelungen, diese Menschen zu integrieren, zieht Mundorff eine positive Bilanz. Nicht zuletzt auch wegen der Bemühungen der Kommune, neuen Wohnraum zu schaffen, wie im Vogelgarten oder im westlichen Gebiet der Albstraße.

Ein Lehrstück für Verständigung ist das Bemühen um Partnerschaften mit jenen Regionen, aus denen ein Großteil der Flüchtlinge stammten, auch das zeigt die Ausstellung. So verbindet Eislingen seit 1981 eine Städtepartnerschaft mit dem ungarischen Villány (Wieland), aus dem nach dem Krieg 900 Menschen kamen. Im gleichen Jahr übernahm die Kommune eine Patenschaft für die Lotschnauer Landsmannschaft. Lotschnau ist ein Vorort von Zwittau im heutigen Tschechien.

Appell, Flüchtlinge mit Liebe aufzunehmen

Interessant sind auch die Überblicke über die Siedlungsgeschichte der Deutschen in den jeweiligen Gebieten. So folgten Menschen aus dem süddeutschen Raum nach dem Türkenkrieg im 18. Jahrhundert dem Ruf der Habsburgermonarchie, sich auf dem Balkan niederzulassen. Im Riesengebirge fassten die ersten Kolonisten schon im 13. Jahrhundert Fuß. Eine Reihe Fotos illustriert den Alltag der Menschen in ihrer ersten Heimat. Darüber hinaus reichern viele Dokumente die Ausstellung an. Besonders anrührend ist ein Aufruf des damaligen Göppinger Oberbürgermeisters Christian Eberhard, die Flüchtlinge „mit Verständnis und Liebe“ aufzunehmen. Gezeigt werden auch eine Einbürgerungsurkunde und ein Ausweis für Flüchtlinge. Ein treffendes Symbol für Vertreibung und Flucht ist ein Handwagen, der mit dem Nötigsten beladen ist: zwei kleine Koffer, eine Pfanne, ein Schöpflöffel, eine Milchkanne und ein Kruzifix.