Das Ludwigsburger Staatsarchiv stellt die Werke von Mechtild Schöllkopf-Horlacher aus. Foto: factum/Weise

Kindern, die von den Nationalsozialisten umgebracht wurden, ist eine neue Ausstellung im Staatsarchiv in Ludwigsburg gewidmet. Sie kombiniert Bilder von Mechtild Schöllkopf-Horlacher und Dokumente, die der Archivleiter Peter Müller aufgespürt hat.

Ludwigsburg - „Idiotie.“ Mehr steht zum Krankheitsbild der Kinder aus der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall, die 1940 über den Umweg der Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg zum Sterben in die Tötungsanstalt in Grafeneck gebracht wurden, nicht auf den Karteikarten. Die Namen, ihr oft einstelliges Lebensalter, ihr Verpflegungssatz – und die Diagnose, die ihr Todesurteil bedeutete. „Von ihrer Persönlichkeit, von ihrer Krankheit bekommt man nichts mit“, sagt Peter Müller, der Leiter des Staatsarchivs in Ludwigsburg.

Müller lässt seinen Blick auf den nebeneinander gereihten, angegilbten Dokumenten ruhen, die alle gleich aussehen. Obwohl die Todesurteile schon besiegelt gewesen seien, habe die Weinsberger Anstalt sogar noch Aktenumschläge für die Dokumente der Kinder gedruckt, merkt er an. „Serielle Fertigung“ und „bürokratisches Abarbeiten“ sind die Begriffe, die ihm zu diesem entpersonalisierten, technokratischen Vorgehen einfallen. „Von der Individualität der Opfer ist in den Akten nichts zurückgeblieben, nur ein paar Daten. Ein Bild muss man sich selbst zu machen versuchen.“

Beklemmende Archivalien

Mechtild Schöllkopf-Horlacher ist eine, die sich Bilder von ermordeten Kindern im Dritten Reich macht – von Sinti- und Roma-Kindern, von jüdischen Kindern, von kranken oder behinderten Kindern. Die Nationalsozialisten hielten ihre Existenz für „lebensunwert“ und ermordeten sie in Erschießungsgruben, Gaskammern, Lagern und Gefängnissen, Krankenhäusern und Heimen. Die Stuttgarter Künstlerin, Jahrgang 1940, will Mädchen und Jungen, von denen kaum mehr als ein Name oder eine Nummer übrig blieb, ein Gesicht geben. Die Ausstellung „Kinder, wir machen einen Ausflug – Die Kinder und der Tod“, die vom 8. März an im Staatsarchiv zu sehen ist, setzt ihr Werk zu Archivalien aus jener Zeit in Beziehung. Den Titel wählte die Künstlerin, weil man den Kindern vor der Deportation oft suggerierte, es stehe ein Ausflug, etwas Schönes an.

Die dunkle Vergangenheit des Klosters Irsee

Es sind keine Bilder, die schockieren und entsetzen. Sie zeigen stattdessen zurückgenommene, weichgezeichnete, leicht verschwommene Kinder-Physiognomien. Keine konkreten Porträts, sondern Mienen und Körperhaltungen, die Allgemeingültiges ausstrahlen: kindliche Anmut, Zartheit und Zerbrechlichkeit. Aus ihren Blicken sprechen Träume, Hoffnungen, Sehnsüchte und Hilflosigkeit.

Dass sich die Künstlerin dieses düsteren Themas annahm, ist einem Zufall geschuldet. Sie wollte sich in der Sommerakademie der Schönen Künste im Kloster Irsee weiterentwickeln – und erfuhr dort, dass das Kloster nahe der bayerischen Stadt Kaufbeuren zwischen 1939 und 1945 eine Heil- und Pflegeanstalt war. Das NS-Euthanasieprogramm kostete 2000 Irseer Patienten das Leben, darunter viele Kinder.

Mechtild Schöllkopf-Horlacher: „Ich war die Spielverderberin.“

Dass sie das in der Tagungsstätte als „unschönes Kapitel“ bezeichnete Thema stark beschäftigte, stieß nicht auf ungeteilt positives Echo. „Ich war die Spielverderberin, die Leute wollen ja schöne Dinge malen. Aber wir haben in Räumen gearbeitet und geschlafen, in denen die ermordeten Kinder gelebt haben. Das kann man doch nicht beiseiteschieben“, sagt sie.

In einer kleinen Gedenkstätte auf dem Klostergelände stieß sie auf einen dreiteiligen Bilderzyklus. „Es sind überarbeitete Fotos, die ein abgemagertes, schreiendes, missgebildetes Kind in verschiedenen Körperhaltungen zeigen, das von Mitarbeitern der Anstalt brutal festgehalten wird“, erzählt Schöllkopf-Horlacher. Sie fand das Bild grauenhaft: „Das Kind wird dem Betrachter buchstäblich vorgeführt, es wird wehrlos und würdelos jedermanns Blicken ausgesetzt. Für mein Gefühl hat man es damit ein zweites Mal verletzt.“ Ihr spontaner Impuls: „Dich male ich schöner. Ich gebe dir deine Würde zurück.“

Historische Fotos aus dem Kinderheim

Aus Sicht der Künstlerin wird die realistische Darstellung der Grausamkeit und des Entsetzens dem Leid der Kinder nicht gerecht. Zwar soll ihre Beklommenheit spürbar werden, doch ausliefern will sie die Kinder nicht. Ein Ansatz, den Peter Müller für seine Archiv-Ausstellungsräume geeignet fand.

Die Fürsorgebehörden waren in die Vernichtungsmaschinerie verwickelt

Zumal einer der Werkzyklen von Schöllkopf-Horlacher in das Jahr 2019 passt: Am 9. Mai jährt sich die Deportation einer Gruppe von Sintikindern, die 1944 aus einem katholischen Kinderheim in Mulfingen nach Auschwitz gebracht wurden, zum 75. Mal. Das Staatsarchiv steuert Schöllkopf-Horlachers den Mulfinger Kindern gewidmeten Bildern historische Fotos bei, die eine Pflegerin damals von den Mädchen und Jungen gemacht hatte. Es zeigt aber auch Ausschnitte aus der Fürsorgeakte des Amtsgerichts Bad Cannstatt, die dokumentieren, auf welch zynische Weise die Fürsorgebehörden selbst in die Vernichtungsmaschinerie verwickelt waren.

Schöllkopf-Horlacher, die für ihre Recherchen über im Dritten Reich ermordete Kinder auch mit den Nazi-Jägern Beate und Serge Klarsfeld korrespondierte, lässt das Thema kaum noch los. Auch Peter Müller wurde, angeregt durch die Ausstellung, detektivisch tätig. Er stieß auf die Biografie der Ärztin Hella Blanckertz (1879 bis 1953), die in der Heil- und Pflegeanstalt Winnenden an der Ermordung junger Patienten beteiligt war. Durch die Injektion von Phenobarbital wurden bei den Kindern gezielt Lungenentzündungen herbeigeführt, die zum Tod führten.

Im Entnazifizierungsverfahren waren die Krankenmorde kein Thema

Die Ärztin Blanckertz, schon früh förderndes Mitglied der SS, wurde im Entnazifizierungsverfahren als Mitläuferin eingestuft, wie sich in Dokumenten in der Ausstellung nachlesen lässt. Eine mögliche Verwicklung in Krankenmorde war in dem Verfahren kein Thema. Im Ruhestand blieb Blanckertz als Pflegefall in der Anstalt in Winnenden. Leicht verwundert nahmen die Ärzte zur Kenntnis, welch große Furcht die alte Frau hatte, an einer Lungenentzündung zu erkranken. „Regelrecht gesträubt hat sie sich“, sagt Peter Müller, „als man ihr Spritzen geben wollte.“