Gego: Bichito Foto: Katalog

Zuvor in Gertrud Goldschmidts Geburtsstadt Hamburg gezeigt, führt „Gego. Line as Object“ im Kunstmuseum Stuttgart die „Heimkehr der verlorenen Tochter“ fort. Parallel sind Werke von Luisa Richter zu sehen.

Zuvor in Gertrud Goldschmidts Geburtsstadt Hamburg gezeigt, führt „Gego. Line as Object“ im Kunstmuseum Stuttgart die „Heimkehr der verlorenen Tochter“ fort. Parallel sind Werke von Luisa Richter zu sehen.

Stuttgart–Venezuela

Beide Künstlerinnen haben in Lateinamerika klingende Namen und sind bekannt. Beide haben Venezuela bei internationalen Kunstereignissen repräsentiert. Beide stammen aus Deutschland. Und beide auch haben in Stuttgart studiert, Gego – wie sich Gertrud Goldschmidt (1912–1994) schon in jungen Jahren nannte – bei Paul Bonatz Architektur an der Technischen Hochschule und Luisa Richter auf dem Weißenhof bei Willi Baumeister Malerei. Allerhöchste Zeit also, beide Namen auch hier wieder in Erinnerung zu rufen. Genau das geschieht jetzt mit der Doppelausstellung im Kunstmuseum Stuttgart, die „Gego. Line as Object“ mit Zeichnungen und dreidimensionalen Arbeiten auf zwei Ebenen des Würfels verteilt und den „Flächenräumen“ und Collagen Luisa Richters das Stockwerk darüber widmet.

Gegos Flucht

Gego verließ Deutschland im August 1939 in aller Hast. Die aus gut situierten Verhältnissen, aus dem Bankhaus J. Goldschmidt in Hamburg, stammende Jüdin, wurde von Paul Bonatz geradezu gedrängt, ihrer schon vorher nach England emigrierten Familie so rasch wie möglich zu folgen. Tatsächlich erhielt die Studentin noch ihr in aller Eile ausgehändigtes Diplom, ordnete in Hamburg die zuletzt verbliebenen familiären Besitztümer, erhielt aber kein Visum mehr nach England, wohl aber eines nach Caracas in Venezuela. Dort heiratete sie im Jahr darauf, eröffnete mit ihrem Mann ein Möbel- und Lampengeschäft und widmete sich dem Entwerfen von Möbeln.

Als sie sich nach erster Ehe, zwei Kindern und der 1952 angenommenen venezolanischen Staatsbürgerschaft mit ihrem neuen Lebenspartner, dem Grafiker Gerd Leufert, 1953 der Kunst zuwandte, war Gego 41 Jahre alt. „Er lehrte mich zu sehen und zu entdecken, etwas, das man im Ingenieurswesen und der Architektur nicht lernt“, bekannte Gego von Gerd Leufert. Doch auch das pädagogische Konzept von Paul Bonatz charakterisierte Offenheit, eine Eigenschaft, die das künstlerische Schaffen von Gego in ganz besonderem Maße auszeichnet. „Der Unterricht wird so lange lebendig bleiben“, so der Stuttgarter Architekt, „als es dem Lehrer gelingt, immer wieder neue Aufgaben zu finden, die ihn selbst interessieren und deren Lösung er noch nicht weiß.“

Faszination Linie

Als Architektin habe sie sich verpflichtet gefühlt, „Linien mit einer klaren Bedeutung zu zeichnen, Linien, die (. . .) Grenzen von Formen oder Räumen festlegen, die aber kein Eigenleben hatten.“ Erst Jahre später, so schrieb Gego auf ihren „Sabiduras“ (posthum aufgefundenen Notizen), „entdeckte ich den Charme der Linie an und für sich – sowohl der Linie im Raum als auch der Linie, die auf eine Oberfläche gezeichnet wird. (. . .) Ich entdeckte, dass manchmal das, was zwischen den Linien ist, genauso wichtig ist wie die Linie selbst.“

Tatsächlich offenbart „Gego. Line as Object“, die von Ulrike Groos und Eva-Marina Froitzheim in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle kuratierte Ausstellung, wahre Wunder im Hinblick auf das Repertoire, das Linien zu Gebote steht. Quer und im Verband marschierend, besetzen sie Flächen, bilden, wenn unterbrochen, Blöcke oder lassen, wenn aufgehalten, gähnend leere Partien stehen. Wie auf Kommando die Richtung ändernd, markieren Linien Stufen, Brüche, kippen weg oder kommen als Wellen in Bewegung. Woanders beginnt sich glatte Ordnung aufzulösen, wird gestört, unterwandert, überlagert, reißt ab, verliert oder verknäult sich. Die radierte „Autobiografie einer Linie“ von 1965 zeigt die typischen Haupt- und Nebenwege biografischen Wandels, Teilung, Wachstum, Auf und Ab, Anfang und Ende.

Kunst-Module

Das Potenzial, das Linien im Raum entfalten, wird schon bei der 1957 entstandenen, frei im Raum hängenden „Vibration in Schwarz“ deutlich. Die kurvige Gestalt ohne Ende erinnert an die Möbiusschleife und reagiert auf Bewegungen des Betrachters visuell mit kinetischen Effekten. Auch für die räumlich gehandhabten Linien kennt Gego ebenso spielerische wie mathematisch strenge Lösungen. Ein ebenfalls hängendes Objekt von 1988, „Cornisa I“, provoziert mit wüst übereinander platzierten Drahtknäueln. Dahingegen bauen die „Esferas“ (Sphären) ähnlich wie die „Reticulareas“ ihre Kugelgestalt auf vernetzten, aber präzisen Modulen wie Dreieck, Quadrat, Fünf- und Sechseck auf. Sie folgen der geometrischen Logik von Polygonen, können aber wie Zellen einander entwachsen und Kolonien bilden, ohne dem Raum seine Transparenz zu nehmen. Auf weiße Bodenflächen geworfene Schattengespinste unterstreichen den Effekt noch.

Haken, Ösen, Tiere

In den 1980er Jahren scheint Gego die Freiheiten, die Linien gewähren, mit noch größerer Lust auszukosten. Es folgen organisch wirkende „Troncos“ und vor allem „Bichitos“, als „Viecher“ bezeichnetes, skurriles Ungeziefer. Aus allerhand Haken, Gittern und Ösen geschaffen, glänzen diese Schöpfungen mit geistreichen Einfällen. Auch aus Papierstreifen geflochtene Weberei („Tejeduras“) und Zeichnungen ohne Papier („Dibujos sin Papel“) lassen es daran nicht fehlen. Die Collageelemente der Papiergewebe leiten zudem elegant zur Ausstellung von Luisa Richter über. Beide Künstlerinnen waren nämlich am Instituto de Diseno, Fundación Neumann, in Caracas als Professorinnen tätig, sind mithin Kolleginnen gewesen.

Luisa Richter

Die 1928 in Besigheim geborene Baumeister-Schülerin gelangte nach dem Tod des verehrten Lehrers 1955 nach Caracas. Nach der Heirat mit Hans Joachim Richter im selben Jahr folgte sie ihrem Mann an den Ort seines Wirkens. Der Bauingenieur entwarf dort Brücken und war an gigantischen Sprengungen und Durchbrüchen für den Straßenbau beteiligt.

Der koloristische Reichtum des vom Tiefbau entblößten Gesteins blieb nicht ohne Einfluss auf die Malerin. Sie löste sich vom Einfluss Baumeisters. Ein Übriges taten das tropische Klima, das blendende Licht, der Standort der im Bauhausstil errichteten „Quinta El Marco“, der Villa in Los Guayabitos, einem außerhalb und deutlich höher gelegenen Stadtteil von Caracas, von wo aus ein Panorama über „sieben Horizonte“ das Auge blendet. Bis heute zeichnet sich Luisa Richters Palette durch fahle, ausgebleicht anmutende Farbtöne aus, die zwischen Beige, Grau, Weiß und Grau und dunklen Akzenten ungemein vielfältigen Reichtum aufweisen.

Zwischen den Kontinenten

Horizonterweiternd wirkte auf Richter auch ihre Gewohnheit, zwischen Südamerika und Europa zu pendeln und die Millionenstadt immer wieder mit Besigheim zu tauschen und die geräumige Villa mit dem Elternhaus am Hang überm Neckar. Nicht vergessen werden dürfen Philosophievorlesungen bei Max Bense und die Freundschaft mit Kurt Leonhard (1910– 2004), dem Apologeten der absoluten Kunst. Der schrieb für Luisa Richter, die 1978 als Repräsentantin Venezuelas an der Biennale von Venedig teilnahm, ein Gedicht, in dem von „Gleichzeitigkeit des Möglichen“ die Rede ist, vom „Freiraum der Vorstellungskraft“, vom „Vor-Augen-Führen“ und „Zu- Gehör-Bringen“ und „Auf-die-Probe-Stellen von Wirklichkeit“.

Nicht zuletzt spielen auch die politischen Verhältnisse in der neuen Heimat und die zeitweise Rückkehr in die alte Welt eine Rolle. Die von Kurt Leonhard als „Flächenräume“ gekennzeichnete Malerei läuft tatsächlich auf eine Art Versöhnung von Widersprüchen hinaus. Sie wahrt die Fläche, spielt aber auch mit der Illusion von Raum, suggeriert Ausblicke durch imaginäre Fenster. Wie hundertfach zerbrochene Scherben, die äußere und innere Wahrnehmungen bruchstückhaft zitieren, gleichen die dem Kaleidoskop eines Bewusstseins, das ohne Gegensätze gar nicht auskommt.

Zielpunkt Collage

Die Collage entwickelte sich folgerichtig zur Domäne der Künstlerin. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ ist so sehr Programm, wie das Zusammenfügen einander fremder Bestandteile eine Art Lebenskonzept darstellt. Inhalte werden dabei nicht ausgespart oder verleugnet. Auf der Basis alter Pläne ihres Vaters, Albert Kaelble, der Kreisbaumeister war, spielt der verstorbene ältere Sohn Thomas eine Rolle („Kreuzlingen“). Die Collage auf Leinwand „Für Altdorfer“ (1986) inszeniert, obschon abstrakt, eine Himmelfahrt und reißt den Blick des Betrachters in die Höhe. „Die Rose des Nikolaus von Cues“ verknüpft dialogisch Mögliches mit Wirklichem, verkörpert somit das Credo der Künstlerin und erinnert mit der „Wissenschaft des Nichtwissens“ des Humanisten („De docta ignorantia“) an überaus aktuelle, eigentlich aber zeitlose Eigenschaften der Krone der Schöpfung.