Pauline Schmied lebte auf dem größten Hof von Winterberg. Foto: Roland Bauer

Eine Ausstellung im Freilandmuseum Wackershofen zeigt Hohenloher Bäuerinnen – fotografiert in den 1970er Jahren von Roland Bauer.

Sie galt als das hübscheste Mädchen in der Umgebung. Doch es hieß, keiner sei ihr gut genug gewesen. Pauline Schaffitzel war die jüngste von drei Geschwistern. Der ältere Bruder blieb im Krieg, danach hielt der jüngere die väterliche Mühle am Laufen. Als auch er starb, war Pauline auf sich gestellt. Bald verkamen Mühle und Landwirtschaft, zum Schluss hatte sie noch ein paar Katzen, Hühner, eine Kuh und das bisschen Milch. Vom Dorf wurde sie gemieden. Ein weitläufiger Verwandter versorgte sie mit Essen, das sie aber meistens an die Tiere verfütterte. Nachdem sie sich den Oberschenkel gebrochen hatte, konnte sie sich nur noch mithilfe eines kleinen Schemels fortbewegen.

 

„Jedes Mal, wenn ich zu ihr kam, wurde ich freudig begrüßt“, erzählt Roland Bauer. Einmal schenkte Pauline ihm eine vom Staub und Ofenruß vergilbte Packung Kekse. Zuhause merkte er: Es waren jene Kekse, die er ihr früher mal mitgebracht hatte.

Roland Bauer hat Pauline Schaffitzel und die anderen Bäuerinnen rings um den Hohenloher Weiler Winterberg Ende der 1970er Jahre fotografiert. Was da zu sehen ist, schien damals schon wie aus einer fremden Zeit gefallen.

Die Gesichter tief zerfurcht, die Rücken tief gekrümmt

Die Frauen auf den Bildern stehen mit Kopftuch, Kittelschurz und dicker Wollstrumpfhose am befeuerten Herd in der Kuchel. Oder draußen am Wäschezuber – mit Schuhen, die an Tramps in Stummfilmen erinnern. Oder im Acker, als wären sie mit der Hacke in den Boden verwachsen. Sie trotten mit ihrem Anfeuerholz über winterliche Straßen, werden von Mini Cooper und Audi 100 überholt – die Gesichter tief zerfurcht, die Rücken tief gekrümmt, wie man es heute gar nicht mehr kennt. So mühsam alles, so kleinklein. Die Viehställe so niedrig und düster, man sieht den säuerlich-warmen Dunst förmlich im Raum stehen. In vorindustriellen Epochen hätten sie auch nicht viel anders ausgesehen. Eigentlich wäre das damals schon alles ein Fall fürs Freilandmuseum Wackershofen gewesen, wo die Fotografien von Roland Bauer jetzt ausgestellt sind.

Gottfried Wendel flicht seiner Schwester Kathe das Haar Foto: Roland Bauer

1978 ist ein Siebenschläfer-Sommer. „Von Juni an regnete es sieben Wochen lang. Aber es war einer unserer schönsten Sommer“, erzählt Roland Bauer. Damals machen er und seine spätere Frau Andrea eine Erkundungstour durch Hohenlohe. Bald stehen sie an einem Häuschen mit einer Bäuerin davor. „In Gedanken sah ich schon mein erstes Foto“, erzählt er. Sie gehen weiter auf dem Waldweg, bis sie auf ein verlassenes Häuschen stoßen. Der Garten verwildert, ein Rebstock rankt die Mauer empor. Nachdem sie ihm ewig in den Ohren liegen, schaffen es die Stadtleut’ endlich, vom störrischen Besitzer zwei Zimmer vermietet zu bekommen. „Unser Paradies, obwohl es furchtbar verdreckt und voll Ungeziefer war.“ Sie streichen die Wände. Legen eine Matratze auf den Boden, der wurde irgendwann mal geölt, riecht noch derart fischig und nässt nach, dass sie eine Plane ausbreiten. Andrea studiert in Stuttgart und hat dort ein Zimmer. Freitagabends holt Roland sie immer am Haller Bahnhof ab.

Bald klopft es an der Tür: Schwester Marie will schauen, wer die Neuen sind. Und erzählt, wer sie ist. Dass sie aus einer großen Bauernfamilie stammt. Auf dem Hof war kein Platz für alle Kinder, so ging sie als junge Frau ins Diakonissenkrankenhaus nach Schwäbisch Hall, lernte Pflege und Hauswirtschaft. Sie blieb ein ganzes Berufsleben. Im Alter ist sie nach Weilersbach unterhalb von Winterberg gezogen, kümmert sich seitdem um die Leute hier, egal welches Wetter. Einmal Diakonisse, immer Diakonisse. Für die Neuen hat sie auch einen Rat: „Machet Se Vorhäng vor d’Fenschder, do ko sonsch jeder reigugga.“

S’isch wie’s isch

Im Haus neben Roland Bauer lebt Kathe Wendel mit ihrem Bruder Gottfried. Sie kommen aus einer Familie mit zehn Kindern. Nur der älteste Sohn konnte auf dem Hof bleiben, die anderen Geschwister mussten sich verdingen. Kathe hat ein arbeitsreiches Leben als Störnäherin hinter sich, zog von Hof zu Hof, um Hosen und Hemden zu flicken. Als Gottfrieds Frau starb, holte er Kathe zu sich nach Winterberg. Noch im hohen Alter mähen die beiden ihre Wiese am Hang von Hand mit der Grassense. „Kathes häufigster Satz war ,s’isch, wie’s isch“, erzählt Roland Bauer.

Der 75-jährige Fotograf führt durch sein Haus: „Vorsicht, Kopf einziehen.“ Hier war früher der Kuhstall. Der über Jahrhunderte abgetretene Steinboden glänzt jetzt wieder speckig. „Das war eine Arbeit, den freizulegen!“ Sie seien dabei fast zu Archäologen geworden, erzählt Roland Bauer. „Und die Wände waren schwarz verkrustet vom Kuhmist.“

Die Marmeladen in allen Farben sind aus heutiger Zeit. Roland Bauer macht sie selber. Bald sind die Quitten so weit. Er führt ein Treppchen hinauf. Dann ist mit einem Mal die Enge weg und der frühere Schafstall zeigt sich als modernes Loft, das vor Raumhöhe nur so strotz. Der frühere Waldweg ist inzwischen asphaltiert, endet aber immer noch am Ende der Welt. Breiter wurde er auch nicht. Wer sich mit dem Auto hierher verirrt, kriegt von Roland Bauer den Tipp: „Fahren Sie weiter, bis irgendwann eine S-Kurve kommt, da können Sie dann zurückstoßen.“

Seine Eltern waren Weingärtner in Cannstatt. Sein Vater verbot ihm die Fotografenlehre – brotlose Kunst. Er lernte Elektromechaniker bei Bosch. Aber da schlummerte noch was anderes in ihm. Als ihm jemand erzählte, in Dortmund könne man ohne Abitur Fotografie studieren, wusste er, was zu tun ist.

Nicht alle sind so nett wie Schwester Marie

1978 steht seine Examensarbeit an. Eine Idee dafür hat er schon. Ein Artikel in der „Stuttgarter Zeitung“ vom langsamen Verschwinden des bäuerlichen Lebens in Hohenlohe brachte ihn darauf.

Er zieht los mit Andrea, seiner Leica R3, den Ilford-Filmen, zwei Objektiven – und findet Winterberg. Oder findet es ihn? Winterberg, das sind sechs kleine Häuser verteilt auf ein paar hundert Meter, dahinter die steile Klinge. Zwei Häuschen sind noch bewohnt.

Alles klamm in den zwei gemieteten Zimmern. Er heizt mit einem Radiator. Wasser gibt es unten am Quellbach. Nicht alle sind so nett wie Schwester Marie. Einmal hält ein hiesiger Bauer auf einem Traktor neben ihm: „Verschwend so schnell de koosch, du hasch hier nix verlora.“

Der Fotograf Roland Bauer Foto: Roland Bauer

Es laufen bereits Wetten, wie lange er und Andrea es aushalten: Mehr als zehn Monate gibt ihnen keiner. Inzwischen sind es 47 Jahre geworden. Nach dem Tod des Eigentümers konnten sie die geliebte Bruchbude sogar kaufen. „Eigentlich war das Haus völlig überbezahlt“, sagt Roland Bauer. Aber was heißt hier schon überbezahlt?

Der Rebstock ist heute knorriger, die Trauben sind praller denn je. Zum Glück konnten sie die Straßenbeleuchtung in Winterberg verhindern: „Wir sehen noch den Sternenhimmel“, sagt Roland Bauer. Der Kauz ruft, die Füchse und Rehe bellen. Morgens sind Dachsspuren ums Haus. „Und der Waschbär erntet meine Mirabellen ab.“ Nachdem man die letzten Winterberger beerdigt hatte, waren Roland und Andrea lange Zeit die einzigen in der Wildnis. Heute sind wieder alle Häuser bewohnt. Das Nachbaranwesen hat sich ein Schreiner ausgebaut. „Toll gemacht“, findet Roland Bauer.

Er konnte als Fotograf Fuß fassen in Hohenlohe, machte Projekte für IBM, den Schraubenkönig Würth, den Schweinepionier Bühler. Seine Frau zog die beiden Mädchen groß und arbeitete als Künstlerin. Die Kinder leben inzwischen in der Stadt. Aber so ländlich aufzuwachsen, das erdet für immer.

Die Reise des Lebens ist oft hart für die einsamen Seelen unter uns. Und manchmal kommen sie nicht umhin, etwas von dieser Härte in sich aufzunehmen. Aber da ist auch die Zärtlichkeit, mit der Gottfried jeden Morgen die Zöpfe seiner Schwester richtet, weil Kathe ja Arthrose hat. Und wie liebevoll Pauline zu ihren Katzen ist! Schwester Marie, die Grundgütige.

Die Winterberger Fotomodels müssen kein Close-up scheuen. Sie können kein Catwalking, machen kein Posing, brauchen keine High Fashion, sie sind auch so schön. In ihren Gesichtern liegt immer auch Verwunderung, dass sich jemand ausgerechnet für sie interessiert. Geschmeichelt fühlen sie sich doch.

Line Hilpert lebt, als Roland Bauer sie fotografiert, in ihrem seit 150 Jahren unveränderten Bauernhäuschen unweit von Winterberg. In der Stube der gusseiserne Turmofen, in der Küche der steinerne Herd, der Boden mit dicken Sandsteinplatten ausgelegt. Strom hat sie keinen. Wasser kann sie auf dem Friedhof gegenüber holen. Wenn es dunkel wird, geht sie ins Bett, wenn es hell wird, steht sie auf. Zwei Kilometer entfernt hat sie ein schmales Äckerchen, auf dem sie Kartoffeln und etwas Gemüse anbaut.

Line Hilpert zog ihre Kraft aus einem starken Gottesglauben

Schon als Zehnjährige versorgte sie die gichtkranke Mutter. Später ging sie mit ihrem Bruder in den Dienst, er als Knecht, sie als Magd. Jeden Pfennig legte sie auf die hohe Kante. Dann kam der Bruder unter den Heuwagen und musste mit kaputten Beinen ins Krankenhaus. Der Bauer hatte ihn nicht versichert. So war das Ersparte schnell aufgebraucht. Beim Vorbeigehen hört Roland Bauer sie oft im Haus leise singen. „Ich glaube, sie zog ihre Kraft aus einem starken Glauben.“

Der größte und höchst gelegene Hof in Winterberg ist das Zuhause von Pauline Schmied. Ihr Mann war früher Ortschaftsrat. Sie konnten keine Kinder bekommen, so adoptierten sie einen Buben vom Heim. Später als Witwe leidet sie darunter, dass der schöne Hof immer mehr verfällt. Und das Verhältnis mit dem Sohn, so erzählt man sich, soll sehr konfliktgeladen sein. Schließlich läuft sie davon. Der Pfarrer vermittelt ihr einen Platz im evangelischen Altersheim von Kirchberg. Pauline Schmied soll dort einen alles in allem zufriedenen Lebensabend verbracht haben.

Die Ausstellung „Alte Bäuerinnen in Hohenlohe“ läuft noch bis 15. November im Freilandmuseum Wackershofen. Vor Ort ist auch ein Bildband mit den Fotografien von Roland Bauer erhältlich.