Der Container auf dem Schlossplatz hütet und bewahrt Erinnerungen an die Opfer des Naziterrors. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

„Stolen Memory“ heißt die Ausstellung der Arolsen Archives, die in einem Container auf dem Opernvorplatz ein Kapitel des NS-Terrors lebendig werden lässt.

Es musste alles seine Ordnung haben: Die Menschen, die im KZ Neuengamme inhaftiert wurden, vorwiegend politische Häftlinge aus ganz Europa, mussten abliefern, was sie bei sich trugen: die Brille, eine Uhr, Schmuck, Fotos von den Liebsten, Zeugnisse vielleicht. Effekten genannt wie in den Gefängnissen, wo sie den Häftlingen nach Verbüßung der Strafe zurückgegeben wurden. Und auch hier ordnungsgemäß in beschriftete Kuverts eingetütet, obwohl das Überleben dieser Häftlinge nicht vorgesehen war. Doch 4700 Umschläge, offenbar weggeworfen und gefunden von britischen Soldaten auf einer Kegelbahn in Lunden, kamen 1963 ins hessische Arolsen ins weltweit größte und internationale Archiv zu Naziverbrechen mit 30 Millionen Originaldokumenten. „Stolen Memory“ heißt die Ausstellung, die Arolsen Archives jetzt in einem Container am Opernvorplatz zeigt. Der Landtag von Baden-Württemberg hat sie zum Holocaust-Gedenktag nach Stuttgart geholt. Die Volkshochschule Stuttgart hat dazu ein großes Begleitprogramm koordiniert ( www.vhs-stuttgart.de).

Welche Geschichten erzählen sie?

Der blaue Container lässt die meisten Menschen, die durch den Schlossgarten eilen, trotz Minusgraden innehalten. Gebannt von den Fotografien von Menschen und Gegenständen, neugierig auf die dazugehörigen Texte. Welche Geschichten erzählen sie? Zum Beispiel die von Neonella Doboitschina. Die Russin gehörte zu der Legion von Zwangsarbeitern und wurde am 5. Mai 1944 in das Frauen-KZ Ravensbrück und von dort nach Neuengamme deportiert. Ihr Schicksal ist unbekannt, geblieben sind Fotos von einer hübschen jungen Frau und glücklichen Menschen, ein Rosenkranz, Ohrringe, zwei Ringe und eine Brosche. Oder die Geschichte von Waldemar Rowinski. Den 17-jährigen Schüler verschleppte die SS als politischen Häftling. Er kam beim Untergang der Cap Arcona am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht ums Leben. Genau wie Maurice Herment aus Lille. Von beiden hütet das Archiv Effekten.

Rückgabe an Angehörige

„Wir suchen Angehörige, um diese Hinterlassenschaften zurückgeben zu können, und haben bereits 700 Familien in ganz Europa und sogar Australien gefunden“, berichtet Charlotte Großmann von Arolsen Archives. Der Detektivarbeit mit der Unterstützung vieler Freiwilliger sei es zu verdanken, dass Joop Will nach 70 Jahren den Abschiedsbrief seines Vaters Peter Will lesen darf, dass der Belgier Yves Stappers die Taschenuhr seines Großvaters Edmond Ameye in Händen hält und Wanda Jaroszynska das Bernstein-Armband ihrer Mutter Wieslawa Brzys. Gerade war Charlotte Großmann in Paris, um den Familien von vier Résistance-Kämpfern Gegenstände zurückzugeben.

Schüler wollen durch das KZ führen

„Was für ein wundervolles und seltsames Gefühl muss es für Töchter und Söhne sein, einen Besitz der Eltern wieder in der Hand zu halten“, erzählt sie den Schülerinnen und Schülern, die aus Gymnasien in Neuenburg und Oberkirch in Baden zum Holocaust-Gedenken im Landtag und zu dieser Ausstellung gekommen sind. „Sie lassen sich in einem Seminarkurs zu Schüler-Guides für den Besuch von Gedenkstätten wie dem KZ Natzweiler Struthof ausbilden“, erläutern ihre Lehrer Philipp Herbers und Axel König und bescheinigen den jungen Leuten großes Interesse. Sie fragen sich: „Wieso haben sich die Nazis diese Mühe mit den Effekten gemacht, sie wollten doch gar nicht, dass ihre Gefangenen überleben?“, wundert sich nicht nur Viktoria. Vor allem sind sie gerührt von den Schicksalen und Opfern des Terrorsystems, denen hier die gestohlene Erinnerung zurückgegeben wird.

Stolen Memory ist bis zum 15. Februar, Montag bis Freitag jeweils von 8 bis 20 Uhr und am Samstag von 9 bis 17 Uhr zu sehen.