Lagebesprechung : Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu mit Vertretern aus Politik und Militär Foto: dpa

Die Reaktion der Regierung in Ankara auf die Gewalt des Islamischen Staates im Grenzgebiet zu Syrien und auf neue Anschläge der PKK-Kurdenrebellen haben die Türkei in eine Krise gestürzt.

Istanbul/Ankara - Auf die Türkei könnten schwere Zeiten zukommen. Denn die kurdische Terror-Organisation PKK hat den seit 2013 geltenden Waffenstillstand für beendet erklärt, nachdem türkische Luftangriffe auf den IS in Syrien und auf die PKK im Nordirak, groß angelegte Festnahmewellen in der Türkei selbst sowie Einschränkungen des Internetverkehrs das Land in einen De-facto-Ausnahmezustand versetzt haben.

Die harten Aktionen der Regierung werden zumindest zum Teil von wahltaktischen Überlegungen bestimmt. In der Türkei herrsche offener Kriegszustand, schreibt der Journalist Türkei setzt auf militärische Stärke. Der regierungskritische islamische Theologe Ihsan Eliacik kommentiert, die Lage erinnere ihn an den letzten Militärputsch vor 34 Jahren: „Luftangriffe in den Bergen, Polizeiaktionen in den Städten, Razzien und Festnahmen – der Knüppel ist der gleiche, nur die Hand, die ihn schwingt, ist eine andere.“ Regierungsanhänger fordern dagegen in sozialen Netzwerken die offizielle Verhängung des Kriegsrechts in Südostanatolien.

Laut Medienberichten griffen türkische Kampfjets seit Freitag in insgesamt 159 Einsätzen rund 400 Ziele des IS und der PKK an. Damit reagiert Ankara auf den mutmaßlich vom IS verübten Anschlag von Suruc, bei dem mehr als 30 Menschen starben, sowie auf Racheakte der PKK, die dem türkischen Staat eine Mitverantwortung für das Massaker zuweist und deshalb mindestens vier Polizisten und Soldaten getötet hat. Die Folge: Die türkische Polizei nahm am Wochenende rund 600 Menschen als mutmaßliche Extremisten fest, darunter viele Kurden.

Die türkischen Behörden sperrten unterdessen den Zugang zu einigen linksgerichteten und kurdischen Internetmedien und verboten am Sonntag einen Protestmarsch in Istanbul. In Ankara ging die Polizei mit Tränengas energisch gegen rund 1000 Demonstranten vor. Die regierungsnahe Zeitung „Takvim“ meldete, die Staatsspitze sei entschlossen, den Kampf gegen Gruppen wie IS und PKK „bis zum Ende“ fortzusetzen.

Kritiker vermuten, dass es Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nicht nur um die Verteidigung des Staates geht. Der Präsident und der Premierminister setzen demnach alles daran, ihrer Regierungspartei AKP einen innenpolitischen Vorteil zu verschaffen. Dreh-und-Angel-Punkt dieser Haltung ist die Aussicht – manche Kenner der innenpolitischen Szene sagen: die Hoffnung – der AKP auf vorgezogene Neuwahlen im November, falls die derzeitige Suche nach einer neuen Koalition erfolglos bleibt.

Die Opposition sagt Erdogan nach, er wolle mit einer militärischen Konfrontation einen neuen Urnengang erzwingen und die AKP nach der Wahlschlappe vom Juni zum Erfolg führen, um auf diese Weise doch noch ein Präsidialsystem nach seinen Vorstellungen einführen zu können. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, wirft der Regierung vor, alle Aktionen der letzten Tage dienten allein dem Zweck, Neuwahlen zu erzwingen und der HDP zu schaden.

Instabilität, so lautet demnach die Überlegung der AKP, erschreckt die Wähler – und die könnten deshalb bei Neuwahlen massenweise zur AKP zurückkehren. Umgekehrt könnte neue Gewalt im Kurdengebiet der HDP schaden, die im Juni mit 13 Prozent der Stimmen überraschend stark abschnitt. Zudem ziele die AKP-Taktik darauf ab, Wähler von der rechtsnationalen Partei MHP zur Regierungspartei zurückzuholen, kommentiert der Meinungsforscher Özer Sancar.

Diese Taktik ist nicht nur wegen der drohenden Eskalation der Gewalt höchst gefährlich, sondern für Erdogan politisch durchaus riskant: Denn einige Umfragen sagen der AKP bei einer Neuwahl eine neue Niederlage statt eines strahlenden Sieges voraus. Erdogan und Davutoglu sehen das jedoch offenbar anders.

Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Präsident und Premier die jüngsten Spannungen im Dienste ihrer Wahlstrategie absichtlich ausgelöst haben, wie das ein paar Verschwörungstheoretiker behaupten. Doch beide Politiker fachen die gefährliche Situation weiter an, statt zu deeskalieren. Die ersten Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak seit Jahren sind dafür das beste Beispiel. Die PKK-Mordanschläge auf die Polizisten sind ohne Zweifel furchtbare Gewalttaten, doch die Kampfjet-Antwort Ankaras war völlig überzogen und zeigt, wie sehr die Regierung auf Krawall gebürstet ist.

Der gewaltsame Konflikt der türkischen Regierung mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK dauert schon mehr als 30 Jahre. Dabei kamen rund 40 000 Menschen ums Leben. Von 1984 an kämpfte die PKK mit Waffengewalt und Anschlägen für einen kurdischen Staat oder ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei. Inzwischen ist die PKK nach eigenen Angaben von der Maximalforderung eines unabhängigen Staates abgerückt.

Die Türkei, die Europäische Union und die USA stufen die PKK als Terrororganisation ein. PKK-Führer Abdullah Öcalan sitzt seit 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Haft.

Die islamisch-konservative AKP-Regierung und die PKK bemühen sich um einen Friedensprozess. Im März 2013 erklärte die PKK eine Waffenruhe. Bald darauf begann die PKK, ihre Kämpfer aus der Türkei abzuziehen. Im September setzte sie den Abzug allerdings aus, weil sie mangelndes Entgegenkommen der türkischen Regierung beklagte.

Ende Juli 2015 griff die türkische Luftwaffe erstmals die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien an und weitete die Bombardements auf Lager der PKK im Irak aus. Damit ist die Waffenruhe faktisch beendet.

Ende Februar dieses Jahres gab es zunächst wieder Bewegung in den Friedensbemühungen: Kurdenführer Öcalan rief seine Anhänger dazu auf, eine Niederlegung der Waffen zu beschließen. Die Nachricht wurde von einer Delegation der prokurdischen Oppositionspartei HDP übermittelt, die Öcalan im Gefängnis aufsuchte.

Bei den Parlamentswahlen im Juni überwand die HDP erstmals die Zehn-Prozent-Hürde und zog ins türkische Parlament ein.

Die AKP-Regierung hat den Kurden schrittweise mehr Rechte zugestanden. Allerdings wird beispielsweise weiterhin kein Unterricht auf Kurdisch in staatlichen Schulen angeboten. Etwa 24 Millionen Kurden leben über die Türkei, den Irak, den Iran und Syrien verteilt. Sie bezeichnen sich als größtes Volk ohne eigenen Staat. In der Türkei machen die Kurden etwa 18 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. (dpa)