Gylten (links) und Gylije Tahiri haben ein Video mit ihrem Hilferuf gedreht. Foto: privat

20 Jahre haben zwei junge Frauen in Tuttlingen gelebt. Sie besuchen die Schule, gehen arbeiten. Dann ist plötzlich kein Platz mehr für sie. Warum?

Tuttlingen - Der Himmel ist trist und bedeckt, es rauscht der Verkehr. Gylten und Gylije Tahiri stehen irgendwo an einer Ausfallstraße in der Nähe von Belgrad. „Wir wurden aus Deutschland abgeschoben in ein fremdes Land. Männer verfolgen uns, Hunde rennen uns hinterher“, sagt Gylten Tahiri. Dann erstickt die Stimme der 23-Jährigen in Tränen, und ihre zwei Jahre jüngere Schwester übernimmt. „Wir wissen nicht mehr wohin, keiner hilft uns“, sagt Gylije. Im Hintergrund stehen Müllcontainer. Dort haben die Schwestern offenbar die Nacht verbracht.

Ihr Deutsch ist akzentfrei

Die beiden jungen Roma-Frauen haben ihren verzweifelten Hilferuf als Handyvideo aufgenommen. Seit sie es vor zwei Tagen ins Internet gestellt haben, wurde es tausendfach geklickt. Zwei Wochen liegt die Abschiebung mittlerweile zurück. 3.30 Uhr am Morgen sei es gewesen, als die Beamten in Tuttlingen und im benachbarten Neuhausen ob Eck vor den Türen standen. Über Freiburg ging es zum Flughafen Karlsruhe/Baden-Baden. Noch am selben Vormittag flogen die Frauen per Sammelabschiebung zurück in ihr Heimatland Serbien. Doch was heißt Heimatland? Zum letzten Mal haben sie es 1999 als Kleinkinder gesehen. Damals war die ganze Familie ausgereist, noch heute leben die Eltern in Tuttlingen. „Wir können diese Sprache nicht. Wir haben niemanden“, sagt Gylten Tahiri in dem Video. Ihr Deutsch ist akzentfrei.

Die Abschiebung der beiden jungen Frauen löst Empörung aus. Das Antirassistische Netzwerk Baden-Württemberg fordert die sofortige Wiedereinreise, eine Online-Petition zählt fast 3000 Unterschriften. Und selbst dem Tuttlinger Oberbürgermeister Michael Beck kommen Zweifel. „Wenn Menschen abgeschoben werden, die seit 20 Jahren in Deutschland leben und hier auch aufgewachsen sind, wirft dies für mich immer Fragen auf“, sagte der CDU-Politiker in einer Stellungnahme.

Abschiebung zur Quotenerfüllung?

All die Jahre haben Gylten und Gylije Tahiri in Tuttlingen gelebt, dort erst den Kindergarten, dann die Schule besucht. Beide Frauen bestritten ihren Lebensunterhalt selbst. Gylije werde von allen Kunden und Mitarbeitern geschätzt. Sie sei offen, freundlich und ehrlich, sagte der Bäckermeister Marc Schneckenburger dem örtlichen „Gränzboten“. Von daher sei die Abschiebung „noch fragwürdiger“, sagte OB Beck. Es rieche „nach Quotenerfüllung“, kritisierte sein Neuhauser Amtskollege Hans-Jürgen Osswald.

Beim Karlsruher Regierungspräsidium (RP), das landesweit für die Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber zuständig ist, gibt man den Schwarzen Peter jedoch an die Stadt zurück. Es erläutert, dass das Aufenthaltsgesetz bei nachhaltiger Integration unter bestimmten Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis zulasse. Es verweist dazu auf die Tuttlinger Ausländerbehörde die zu entscheiden gehabt habe, ob dies bei den beiden jungen Frauen möglich gewesen wäre. „Warum das nicht geschehen ist, müssen Sie dort nachfragen“, sagte die Sprecherin des RP, Irene Feilhauer. Es habe offenbar ein Informationsdefizit gegeben, räumte OB Beck ein. So habe sein Ausländeramt nicht gewusst, dass Gylije seit einem Jahr berufstätig ist und mittlerweile einen unbefristeten Arbeitsvertrag besitzt. Er wolle sich dafür einsetzen, dass die Schwestern schnell zurückkehren könnten. Allerdings dürfte dies schwierig werden. Üblicherweise gibt es eine Einreisesperre.