Opulente Bauskulptur: die Neue Staatsgalerie im Jahr 1984. Vier Jahre später wurde der James-Stirling-Bau mit dem Hugo-Häring-Landespreis ausgezeichnet. Foto: Peter Walser

Der Hugo-Häring-Landespreis, die wichtigste Architekturauszeichnung Baden-Württembergs, feiert 50-jähriges Bestehen. Die Ausstellung „Zweiter Blick“ spürt der Substanz der prämierten Architektur nach.

Stuttgart - Ein Wiedersehen mit alten Bekannten ist nicht immer erfreulich. Unangenehm wird’s vor allem dann, wenn das Gegenüber sich zu seinem Nachteil verändert hat, die Erscheinung negativ von dem Bild abweicht, welches man im Kopf bewahrt hatte. Was nicht heißen soll, dass die Jahre nicht ihren Tribut fordern dürfen. Nichts übertrifft mit den Jahren gereifte Schönheit.

1969 wurde der Hugo- Häring-Landespreis ins Leben gerufen, seither hat der Landesverband Baden-Württemberg des Bundes Deutsches Architekten 171 „Große Hugos“ vergeben; es ist der bedeutendste Architekturpreis des Landes. Das Auszeichnungsverfahren, das nach dem Baumeister Hugo Häring (1882-1958) benannt ist und seit 1978 alle drei Jahre erfolgt, ist zweistufig: In einer ersten Stufe werden die besten Bauten aus den Kreisgruppen des BDA prämiert; im Folgejahr bestimmt die Jury aus dem Kreis dieser Hugo-Häring-Auszeichnungen die Landespreisträger. Die von Architekten gern salopp als „Kleine und Große Hugos“ titulierte Ehrung soll nicht nur mustergültige architektonische Qualität, sondern auch die gesellschaftlich verantwortliche Zusammenarbeit von Architekt und Bauherr würdigen.

Gegenüberstellung nach dem Vorher-Nachher-Prinzip

Nach fünfzig Jahren zurückzublicken, liegt nahe – genau das tut die jetzt im BDA-Wechselraum in Stuttgart eröffnete Ausstellung „Zweiter Blick. Ein halbes Jahrhundert Hugo-Häring-Landespreise 1969-2019“. Der Fotograf Wilfried Dechau reiste durchs Land, nahm sich 38 Bauten aus vier Dekaden vor. Er stellte dabei historische Fotos nach, indem er die Bauten vom gleichen Standpunkt aus aufnahm. Vorher, nachher – Hugo-Häring-Preis revisited also. Dechau zieht die aktuellen Aufnahmen groß, ordnet sie meist zum Quartett oder Duett. Die kleinformatigeren, historischen Fotos samt Datenblatt stellt er ihnen an die Seite. Renommierte Architekturexperten wurden verpflichtet, zu jedem Objekt ihr Kritikerurteil zu fällen. Ein Auftrag, der in knappe, mal mehr, mal weniger geschliffene Texte mündete.

Durch das sorgfältige Arrangement auf weißem Grund können die Fotografien ihre Wirkung trotz der Beengtheit des Ausstellungsraums entfalten. Nur steht zu befürchten, dass die ansprechende Präsentation von einem Gutteil der Besucher eher am Rande gewürdigt wird: Man sieht sie meist nah an die Fotografien herantreten, Details studieren. Denn klar ist: Hier geht es um den Gegencheck. Hält die damals ausgezeichnete Architektur heute noch den Erwartungen stand, die einst in sie gesetzt wurden? Gerade der durch die Schau ermöglichte „zweite Blick“ ist es, der die einst bescheinigte Qualität des Gebauten nun erst letztgültig bestätigen oder aber wieder aberkennen kann, zeigt sich diese doch erst in der zeitlosen Gültigkeit.

Die Neue Staatsgalerie glänzt unverändert

Bei den meisten Bauten ist das Wiedersehen ein Genuss. Zu den Preisträgern, die sogar „weltweit ausstrahlten“, wie Stephan Trüby, Direktor des Stuttgarter Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen, in seiner Festrede zur Eröffnung anmerkte, gehört an vorderster Stelle die Neue Staatsgalerie in Stuttgart, James Stirlings postmodernes Vermächtnis, das 1988 einen Architekturstreit vom Zaun brach, der sich gewaschen hatte. Nach wie vor entfaltet die opulente Bauskulptur ihre Wirkung; der Muschelkalk- und Sandstein-Fassade hat die Zeit nichts anhaben können.

So ziehen mit den Fotos Strömungen, Debatten und Skandale am Betrachter vorbei, lassen Aufregung und Eifer von einst aber meist nichtig erscheinen. Was vor allem beeindruckt: Manche Bauten sind mit den Jahren geradezu aufgeblüht – die Architektur scheint erst durch die Erfüllung mit Leben zu großer Baukunst gereift. Das Progymnasium in Lorch, 1973 nach den Plänen von Behnisch & Partner entstanden: ein Bau mit menschlichem Antlitz, in dem sich Schüler jeder Generation wohlfühlen, der sich mühelos dem Wandel der Pädagogik anzupassen vermag.

Was Hugo Häring freuen würde

Die Mehrzahl der gezeigten Projekte erweisen sich als würdige Preisträger, was auch die Juroren ehrt: die Siedlung Ochsensteige in Ulm etwa, schon Anfang der Neunziger autofrei, verdichtet und mit flexiblen Grundrissen konzipiert; die 1974 ausgezeichnete Universität Konstanz mit ihrem bis heute bezirzend-bunten Foyer-Glasdach, Carlfried Mutschlers Mannheimer Pfingstbergkirche, die Natur und Architektur spirituell vereint.

Und ja, es gibt auch unschöne Wieder-Begegnungen: vor allem bei Projekten, denen nicht gewährt wurde, zu überdauern. Dem Ulmer Bahnhof wurde das elegant geschwungene Vordach weggerissen; der Kleine Schlossplatz in der Version von 1968, die dem Stuttgarter Stadtbild eine „neue lebendige Dimension“ verlieh, ist passé. Drei Türme und damit nur klägliche Reste sind von dem ehrlichen Industrie-Monument geblieben, das Barbara und Fritz Wilhelm mit dem Zementwerk Geisingen gestalteten. Carlfried Mutschlers Mannheimer Multihalle ist diesem Abriss-Schicksal knapp entgangen – in diesem Sommer erging der Beschluss, die größte Gitterschalenkonstruktion der Welt zu sanieren. Stephan Trüby mutmaßte in seinem klugen Vortrag wohl richtig: „Hugo Häring würde sich darüber sicherlich grenzenlos freuen.“

Bis 24. Januar. Geöffnet Di-Fr 10-13 und 15-18 Uhr. Zur Ausstellung ist im Karl Krämer Verlag ein Buch erschienen.