Vor allem in der Landwirtschaft gibt es viele schlecht bezahlte Jobs, die oft von Tadschiken, Kirgisen oder Ukrainer erledigt werden. Foto: Dusan Kostic/Adobe Stock

Rund zehn Millionen Arbeitsmigranten halten Russlands Wirtschaft am Laufen. Viele sind illegal, unterbezahlt, von der Bevölkerung diskriminiert. Bei einer Autofahrt zwischen Moskau und Sankt Petersburg erzählen sie ihre Geschichte.

Moskau - Der Himmel hinter dem Moskauer Bahnhof Leningrad hängt tief über den Pfützen, die sich im Asphalt sammeln. Vor einem Metallzaun steht ein Toyota mit einer Delle in der Tür. Der Fahrer trägt Flipflops und raucht auf der Motorhaube. Er hat schmale Augen und wippt nervös mit dem Fuß. „Wir warten auf zwei Leute, dann fahren wir los“, nuschelt er. Im Autoinneren ist das Lenkrad auf der rechten Seite. Drei Männer und eine Frau mit asiatischen Gesichtern unterhalten sich auf gebrochenem Russisch. Es sind Gastarbeiter, die billig mit einem Privatbus von Moskau nach Sankt Petersburg kommen wollen.

Mehr als zehn Millionen Menschen leben in Russland, die als Arbeitskräfte aus der ehemaligen Sowjetunion einreisen, die meisten stammen aus Zentralasien. Die Tadschiken, Kirgisen oder Ukrainer gelten als unqualifiziert und arbeiten ohne Feiertage und Arbeitsschutz in Jobs, die viele Russen nicht machen wollen. Sie fegen Straßen, schuften auf dem Bau, verkaufen Handtaschen auf dem Basar. Viele von ihnen sind illegal.

Rassistisch beleidigt, offen diskriminiert

Dass Russland auf die billigen Arbeitskräfte angewiesen ist, liegt auch an den westlichen Sanktionen. Sie haben manche Industriezweige hier erst wieder aufleben lassen. Vor allem in der Landwirtschaft sind viele schlecht bezahlte Jobs entstanden. „Die muss ja jemand machen“, sagt Askar, der klein gewachsene Kirgise auf der Hinterbank. Er selbst arbeitet seit einigen Jahren am Band in einer Fabrik in Sankt Petersburg. Dahin soll der Bus gleich starten. Eine Stunde vergeht, dann kommen zwei Kunden, beide Russen. Eine ältere Dame mit Hut und ein junger Mann fragen den Fahrer nach dem Fahrpreis. Bevor sie in das Auto steigen, blicken sie mit grimmigen Gesichtern durch die Fensterscheibe, tuscheln. Dann drehen sie sich um und gehen. Wenige Minuten später das gleiche Bild: Zwei blonde Frauen stecken den Kopf in das Autoinnere, inspizieren wie Grenzbeamte die Insassen, greifen nach ihren Koffern und verschwinden wortlos.

„Aasgeier“, zischt Sergej, der stille Armenier an der Fensterscheibe. „Die Russen haben Angst vor uns“, sagt Askar und schüttelt den Kopf. „Wir machen hier die Drecksarbeit. Aber niemals würden sie im selben Auto fahren wie wir.“ Die Insassen fluchen. Die Frau auf dem Vordersitz spricht aufgeregt in ihr Handy. Immer wieder zirkulieren in Russland Berichte von Gastarbeitern als Diebe und Kriminelle. Trotz der langen gemeinsamen Sowjetzeit, in der Länder aus Zentralasien und Russland zu einem Staatsblock gehörten, und trotz der russischen Sprache, die viele Migranten sprechen, werden Gastarbeiter auf der Straße rassistisch beleidigt, offen diskriminiert.

Kein Geld, um das Bein zu operieren

Irgendwann ist auch die Geduld des Fahrers aufgebraucht. Mit zwei leeren Sitzen fährt der Minibus los.

Zehn Stunden dauert die Fahrt nach Sankt Petersburg. Immer wieder nimmt der Toyota Anlauf, um mit letzter Kraft Laster aus der Sowjetzeit zu überholen, die wie alte Fabriken nach Ruß und Diesel stinken. Die Weite des Landes drängt sich auf. Wälder und Seen ziehen vorüber. Kleine Dörfer mit Lehmstraßen tauchen auf und verschwinden hinter dem Horizont. Für Izel, einen 21-jährigen Kerl mit stämmigen Oberarmen und breitem Kopf, ist der Platz auf der Rückbank zu eng. Seit ihn vor einigen Wochen ein Auto angefahren hat, schmerzt ihm das Bein. In Moskau wollte es ein Arzt operieren, aber das war Izel zu teuer. Eine Krankenversicherung hat er nicht. Der Unfallfahrer, der ihm alles eingebrockt hat, ist einfach abgehauen. Jetzt rutscht Izel auf dem Sitz von einer Pobacke auf die andere, winkelt das Bein an, versucht es auszustrecken. „Gut, gut“, sagt er und lächelt gequält. Wenn es längere Sätze sind, muss Askar, der neben ihm sitzt, übersetzen.

Izels Geschichte klingt wie die vieler Gastarbeiter hier. In Usbekistan aufgewachsen, nach der Schule illegal nach Russland ausgewandert. Seitdem schiebt er Schubkarren auf Baustellen in Sankt Petersburg. „Das Geld ist gut“, sagt er. Um die 150 Euro verdient er im Monat, etwa die Hälfte des Durchschnittslohns in der Metropole. Das reicht für ein WG-Zimmer in der Vorstadt. Einen Teil des Geldes schickt Izel den Eltern in die Heimat.

Das Geld wird an die Familien zuhause überwiesen

Für Länder in Zentralasien sind die Transfers aus Russland eine der wichtigsten Einnahmen. In Tadschikistan zum Beispiel machen Überweisungen aus Russland etwa die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aus. Wenn Izels Bein weiter schmerzt, muss er zu den Eltern zurück, glaubt er. Was er dort dann macht? Izel zuckt mit den Schultern und sagt: „Dort gibt es nichts.“

In Russland zu bleiben ist für viele auch ein Problem. Mal erhöht der Staat die Zahl der legalen Gastarbeiter. Dann senkt er sie von einem Tag auf den nächsten rapide ab. Tausende müssen in ihr Land zurück.

Am meisten wurmt Askar, wenn Gastarbeiter andere Gastarbeiter ausnutzen. Am Anfang kaufen sie den Neuankömmlingen in der Metro ein Ticket. Dann vermitteln sie ihnen Arbeit und ein Dach über dem Kopf. Dafür nehmen sie hohe Provisionen. In Russland haben sich so ganze Schiebernetzwerke gebildet, die als Vermittler die Verzweiflung der Arbeitsmigranten ausnutzen. „Das sind Verbrecher, die andere wie Sklaven behandeln“, ruft Askar entnervt. Der russische Staat schaut dem illegalen Geschäft oft nur zu. Viele Polizisten werden von den Schiebern geschmiert, die Beamten sehen bei fehlender Arbeitserlaubnis hinweg, erzählt Sergej, der Armenier. Andere Gastarbeiter bestätigen das.

Wie lange Izel in Russland noch arbeiten will, weiß er nicht. Sankt Petersburg kommt in Sicht. Im Toyota herrscht jetzt Stille.