Kanzlerin Angela Merkel begrüßt Absolventen zu Beginn der Graduierungsfeierlichkeiten der Harvard Universität. Foto: dpa

Kanzlerin Angela Merkel bedankt sich für die Verleihung des Ehrendoktors der Universität Harvard auf ihre Weise: Sie kritisiert den US-Präsidenten, ohne ihn einziges Mal beim Namen zu nennen. Doch alle wissen, wer gemeint ist.

Cambridge - Ob die Wirkung beabsichtigt war oder nicht: Es ist der eine Satz, der ihr den kräftigsten Applaus einträgt. Genauer gesagt, stehende Ovationen. Angela Merkel hat das Motto aufgegriffen, das an diesem Tag an jedem Türmchen auf den purpurroten Bannern der Universität Harvard zu lesen ist: Veritas, Wahrheit. Sie hat die Hochschule als einen Ort beschrieben, an dem junge Menschen aus aller Welt unter dem Motto der Wahrheit lernen, forschen, diskutieren. Dann folgt dieser Satz: „Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen“.

Da will der Jubel gar nicht mehr aufhören, und hinterher sagt Sarah Kahn, dass natürlich jeder wusste, auf wen der Satz zielte. Auf den Mann im Weißen Haus. Kahn hat Politikwissenschaften studiert, sie hat seit Donnerstag einen Harvard-Abschluss in der Tasche, sie lacht viel und gern. Auch den Gedanken, dass es Donald Trump der deutschen Bundeskanzlerin ihrer Kritik wegen wieder einmal heimzahlen werde, lacht sie förmlich weg. „Und wenn schon, damit kann sie umgehen.“ Es habe sie beeindruckt, schiebt die 24-Jährige hinterher, wie Frau Merkel Herrn Trump kritisierte, ohne ihn einziges Mal beim Namen zu nennen.

Eine Art Lichtfigur in dunkler Nacht

Merkel sagt vieles, was das Publikum auf dem Campus der ältesten und renommiertesten Universität der USA, Studenten wie Alumni, nur als Gegenentwurf zur Weltsicht des amerikanischen Präsidenten verstehen kann. Oder verstehen will, je nachdem. Harvard, das ist ein Heimspiel für sie.

Im Programmheft steht, Angela Dorothea Merkel werde von vielen nicht nur als mächtigste Politikerin Europas angesehen, sondern auch als Kanzlerin der freien Welt. Ein kitschiges Filmchen, das sie als „Commencement Speaker“ vorstellt, zeigt sie zu skurril dramatischen Klängen als eine Art Lichtfigur in dunkler Nacht. Und Lawrence Bacow, der Präsident der Universität, der ihr am Vormittag die Ehrendoktorwürde verliehen hatte, erinnert in einer kleinen Laudatio daran, dass sie die Türen ihres Landes geöffnet habe für eine Million Flüchtlinge, die die Kriege des Nahen Ostens hinter sich lassen wollten.

Schon da prasselt der Beifall. Solange, bis sie, nunmehr ans Pult getreten, auf Englisch bemerkt, dass sie vielleicht einfach mal anfangen sollte mit dieser Rede – „I think, let’s start“. Dann erzählt Merkel, nunmehr auf Deutsch, von der Berliner Mauer, vor der sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung im letzten Moment abbiegen musste. Jeden Tag habe sie kurz vor ihrer Freiheit abbiegen müssen, habe die Mauer ihre Möglichkeiten begrenzt, ihr buchstäblich im Wege gestanden. Dann aber, als die Mauer plötzlich fiel, habe sie ganz persönlich erlebt, dass nichts so bleiben müsse, wie es sei. Und das wolle sie den Graduierten als einen Gedanken in die Zukunft mitgeben: „Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern“.

Die Mauern der Ignoranz und der Engstirnigkeit einreißen

Protektionismus und Handelskonflikte gefährdeten freien Welthandel und Wohlstand, warnt sie, während Trump kurz darauf neue protektionistische Hürden aufstellt. Ab 10. Juni, kündigt er an, wie so oft mit einem Tweet, werden die USA auf sämtliche Importe aus Mexiko fünf Prozent Zoll draufschlagen. Schrittweise womöglich noch mehr, bis Mexiko den Zustrom illegaler Einwanderer endlich stoppe. In Cambridge, Massachusetts, der Stadt, in der die Harvard University vor 383 Jahren gegründet wurde, spricht Merkel vom Ziel Deutschlands, bis 2050 die Klimaneutralität zu erreichen. Sie spricht davon, dass man mehr und mehr multilateral statt unilateral, global statt national denken müsse, weltoffen statt isolationalistisch.

Man könne auch auf schwierige Fragen gute Antworten finden, mahnt sie, wenn man die Welt immer auch mit den Augen des anderen sehe. Sie wünsche sich, „dass wir Mauern einreißen“. Mauern der Ignoranz und der Engstirnigkeit, die zwischen Mitgliedern einer Familie ebenso verliefen wie zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Hautfarben, Völkern, Religionen. Mauern, die einengten, während alles möglich sei, wenn man ins Offene gehe, den Neuanfang wage.

Dreimal danken es ihr die über zwanzigtausend Zuhörer unter den alten Laubbäumen im Harvard Yard, dem zentralen Hof der Universität, mit Standing Ovations. Und mittendrin, zwischen all den großen Themen, sagt sie noch so einen Satz, der klingt, als wäre es ein sehr persönlicher Ratschlag für Trump, den Twitter-König. Bessere Antworten ließen sich vielleicht schon dann finden, empfiehlt Angela Merkel, „wenn wir bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unseren ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen.“