Der Strafprozess zur Aufklärung des Wirecard-Skandals hat begonnen. Im Mittelpunkt stehen Markus Braun und die Frage, ob der Ex-Vorstandschef Boss einer Betrügerbande war.
Der Gerichtssaal mit dem Flair einer Schulturnhalle liegt unterirdisch auf dem Areal der Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Ortsansässige nennen sie Sankt Adelheim. An diesem Donnerstag nimmt um 9.45 Uhr eine besondere Art von Geldadel auf der Anklagebank Platz. Es sind Markus Braun als Ex-Chef des einstigen Dax-Konzerns Wirecard, dessen früherer Chefbuchhalter Stephan E. und ein Mann, den man wegen seiner zentralen Rolle im Prozess mit vollem Namen nennen muss. Es ist Oliver Bellenhaus, einstiger Wirecard-Statthalter in Dubai, Angeklagter und Kronzeuge der Anklage zugleich. Braun schreitet voran, zielstrebig mit Laptop unter dem Arm, Blazer und schwarzem Rollkragenpullover.
Braun wirkt unbeschwert
Im Gegensatz zu seinen Mitangeklagten wirkt Braun dynamisch und unbeschwert. Bellinghaus trägt eine Atemschutzmaske, Stefan E. schmuggelt sich zwischen seinen Anwälten in den Hochsicherheitssaal, der einst für Terroristenprozesse gebaut wurde. Seine Angaben zur Person macht Braun mit lauter, klarer Stimme. Seinen aktuellen Wohnort Stadelheim – dem größten Gefängnis Bayerns – bestätigt er mit den Worten „absolut richtig.“ Dann ist Staatsanwalt Matthias Bühring an der Reihe, der den Wirecard-Komplex maßgeblich ermittelt hat. Stundenlang verlesen er, eine Kollegin und ein Kollege die 89-seitige Anklageschrift.
Sie kommen dabei rasch zur Sache. Irgendwann vor 2015 habe Braun mit seinen Mitangeklagten sowie weiteren Personen eine kriminelle Bande gebildet. Ihr Ziel war es, den Konzern über Scheinbuchungen und Scheinvermögen in Milliardenhöhe als profitabel darzustellen, um Kredite und Anleihen zu erschleichen. Von diesen real existierenden Geldern wurden 215 Millionen Euro in dunkle Kanäle geschleust.
Nur erschlichene Kredite hätten Wirecard über Wasser gehalten
Das glaubt die Anklage beweisen zu können. Erfunden worden seien die nur auf dem Papier stehenden Summen in drei asiatischen Partnerfirmen und als Drittpartnergeschäfte (TPA) in Wirecard-Bilanzen eingeflossen. Das reale Geschäft sei defizitär gewesen. Nur durch die erschlichenen Kredite hätte die „Wirecard-Bande“ einen frühen Kollaps des Konzerns vermieden. Den Scheinbuchungen wurden Treuhandvermögen in Singapur und auf den Philippinen von in der Spitze 1,9 Milliarden Euro zugeordnet. „Tatsächlich existierten das Drittpartnergeschäft und die angeblichen Erlöse hieraus, einschließlich der angeblichen Treuhandkonten zu keinem Zeitpunkt“, versichert Bühring.
Belege und Abrechnungen hätten Braun und seine Bande buchhalterisch erfunden, um Wirtschaftsprüfer oder Banken zu täuschen. Dazu seien Verträge rückdatiert worden, oder Unterschriften und Datum fehlten ganz. Teils wurden drei oder mehr Vertragsversionen gefunden. Sogar eine angebliche Buchung mit einem 31. November fanden die Ermittler – dabei hat der November nur 30 Tage. Immer stellen sie Braun als Kopf der Bande und Jan Marsalek als einstige Nummer zwei bei Wirecard als andere treibende Kraft dar.
Nach Außen galt Wirecard als Vorzeigeunternehmen
Genau untersucht haben Staatsanwälte die Bilanzen von 2015 bis 2018. Erfundenes Treuhandvermögen schwoll dabei von 114 auf 976 Millionen Euro an. Nach außen galt Wirecard als Vorzeigeunternehmen, das alle Prognosen im Gegensatz zur Konkurrenz zuverlässig wie ein Uhrwerk erfüllt hat. Es war zu schön, um wahr zu sein. Geschäfte seien gezielt so erfunden worden, um vorher gemachte Prognosen auf dem Papier erfüllen zu können, betont die Anklage.
„Wäre die wahre Finanzlage veröffentlicht worden, wäre es zu Kurseinbrüchen gekommen“, sagt Bühring. Mit den Lügen aber stieg der Aktienkurs. Zwischen 2015 und 2018 wurde laut Anklage die Hälfte aller angeblichen Konzernumsätze frei erfunden und der gesamte Gewinn.
Im Oktober 2019 war eine Sonderprüfung der KPMG nicht mehr zu verhindern. Die Wirtschaftsprüfer fanden keine Belege zur Existenz von 1,9 Milliarden Euro Treuhandvermögen. Wirecard-Oberaufseher Thomas Eichelmann verlangte von Braun eine entsprechende Mitteilung an die Börse. „Belege für die öffentlich erhobenen Vorwürfe der Bilanzmanipulation wurden nicht gefunden“, formulierte der in völliger Verdrehung der Tatsachen. Im April 2020 musste der KPMG-Report im Wortlaut veröffentlicht werden. Der Kurs brach um gut ein Viertel ein. Die finale Talfahrt stand an.
Mehr als drei Milliarden Euro erschlichen
Mit solchen Methoden erschlichen habe die Bande um Braun über drei Milliarden Euro an Krediten und Schuldverschreibungen, sagen die Ermittler. Sie glauben, beweisen zu können, dass davon 215 Millionen Euro veruntreut wurden. Bei 35 Millionen Euro glaubt die Staatsanwaltschaft Braun als Empfänger identifizieren zu können. Vorstandsbezüge und Dividenden des Wirecard-Großaktionärs Braun in mehrfacher Millionenhöhe seien zudem aus nie real existierenden Gewinnen gezahlt worden.
Der 53-jährige Hauptangeklagte soll kommende Woche zu den Vorwürfen aussagen. Bislang zeichnet er eine andere Realität: In der war er Opfer und nicht Täter, Betrogener und nicht Betrüger. Die TPA-Geschäfte hätten ebenso existiert wie die Treuhandmilliarden. Sie seien von den wahren Tätern geraubt worden, deren Kopf Jan Marsalek war. Beweisen muss Braun das nicht. Die Beweispflicht liegt bei der Staatsanwaltschaft.