Nach fünf Jahren ist die Piratenpartei am Ende. Foto: dpa

Vor fünf Jahren wollten die Piraten die Republik klarmachen zum Ändern. Woran ist die Partei gescheitert? Vier prominente Piraten versuchen eine Antwort.

Berlin - Der Tag des Abgeordneten Christopher Lauer beginnt natürlich im Internet. „Heute Plenarsitzung in Berlin. Ihr seid sicher voll aufgeregt, was wir Racker heute so für euch entscheiden“, twittert Lauer seinen 30 000 Followern entgegen. Es ist Donnerstagmorgen, das Abgeordnetenhaus tagt wie alle 14 Tage, und dies hier wird die fünftletzte Sitzung für den Abgeordneten Lauer. Die meisten Stühle auf der Besuchertribüne sind leer. Eine Geschichte über den Preußischen Landtag geht so: Wenn man vor dem Haus eine kleine Stichprobe wagt und zehn Passanten fragt, was das für ein Gebäude ist, sagen sieben davon – ein Museum.

Vor fünf Jahren hätten die Piraten sich darüber totgelacht. Übernächtigt und verstrubbelt standen am 19. September 2011 ein Dutzend junger Männer in Jeans und T-Shirt im Saal 113 des Parlaments. Sie suchten nach Steckdosen für ihre Laptops. Und nach Kopfschmerztabletten. Die Nacht zuvor im Ritter Butzke in Kreuzberg war lang gewesen – und historisch. Zum ersten Mal hatte die Piratenpartei in Deutschland den Sprung in ein Landesparlament geschafft. Und wie! Knapp neun Prozent der Berliner wählten die wilde Truppe. 15 Menschen hatten über Nacht ein Mandat. Was für nicht wenige auch anders als bisher in ihrem Leben bedeutete: einen Job, ein Büro, eine Verpflichtung.

Ein Besucher im Jurassic Parc

Als Christopher Lauer vor fünf Jahren das Parlament betrat, da wirkte er wie ein Besucher im Jurassic Parc. Da stand er, schwarzes Haar, Jackett, Nerdbrille – und hielt den Journalisten seine geöffnetes Laptop entgegen. „Hier sehen Sie das Internet.“ Es klang, als hätte einer eine Lösung gefunden. Jetzt sitzt Lauer im Parlament, schaut abwechselnd in sein Laptop und zum Rednerpult. Alle paar Minuten kommt ein neuer Tweet: „Die Debatte ist so unterirdisch.“ Wenig später: „STIMMUNG!“ Bei der Wahl in vier Monaten haben die Piraten kaum eine Chance. Lauer ist ohnehin längst ausgetreten.

Nicht einmal fünf Jahre hat das Politikexperiment Piratenpartei gedauert. Woher kam der Erfolg? Woran ist die Partei gescheitert? Und wie sehen die Protagonisten von einst, was sie damals taten?

„Es war einfach Zeit für uns“, sagt Martin Delius. Da war auf einmal eine Gruppe junger Menschen, die behauptete, politisch etwas verändern zu wollen – und der es gelang, eine hohe Anzahl von Menschen auf ihrem Weg mitzunehmen. Und es störte zunächst nicht sehr, dass keiner genau wusste, wohin dieser Weg führte. „Das Problem war, dass wir eigentlich nicht politisch waren.“ In der Analyse des Scheiterns kennt Delius sich aus – er leitet den Untersuchungsausschuss zum Großflughafen BER und hat sich damit bei den anderen Parteien einen Namen gemacht. Delius ist Physiker, er kennt sich mit Versuchsanordnungen aus. Er vergleicht die Anfangsüberzeugung der Piraten mit der Pseudoreligion des „Cargo Cult“: so nennt sich ein Phänomen, welches die US-Army im Zweiten Weltkrieg auslöste, als sie Südseeinseln nutzte und die Ureinwohner dafür mit Waren überschüttete. Als die Soldaten schließlich abzogen, bauten die Insulaner Landebahnen nach und imitierten tanzend die Bewegungen der Fluglotsen – in der Hoffnung, so die Götter gnädig zu stimmen und neue Güter zu erhalten. Auch Christopher Lauer, der ein Buch über seine Partei geschrieben hat, zieht diesen Vergleich.

Eine Imitation von Politik

Letztlich hätten die Piraten an vielen Stellen nicht politisch debattiert, sondern nur Politik imitiert, sagt Delius. „Wir haben zum Beispiel einen politischen Geschäftsführer berufen, nur weil die anderen Parteien das hatten. Wir haben nicht mal definiert, was der eigentlich macht.“ Die Piraten hätten zu vielen Punkten keine politischen Antworten gefunden. „In allen Parteien gibt es Diskussionen und Streit.“ Den Piraten habe aber ein gemeinsamer politischer Wille gefehlt. „Bei uns gab es nur Frontlinien und Verschwörungstheorien bei gleichzeitiger Abwesenheit eines gemeinsamen politischen Willens.“

Auf der Bugwelle des Erfolges

Trotzdem war der Erfolg zunächst gigantisch. Nach Berlin zog die Partei in vier weitere Landes- und etliche Kommunalparlamente ein, die Mitgliederzahl wuchs in Windeseile – so wie die Bugwelle der Aufmerksamkeit. In jeder Talkshow saß praktisch über Nacht ein Piratenpolitiker und sollte seine Meinung sagen: dabei war es egal, ob gerade über die neue Partei oder über Außenpolitik geredet wurde. Wie exotische Tiere bestaunte das Publikum die Politneulinge. Da saß die politische Geschäftsführerin Marina Weisband im langen Kleid und sprach eloquent über die Ukraine. Oder Johannes Ponader, der vermutlich nur noch wegen seiner bloßen Füße in Trekkingsandalen in Erinnerung ist.

Das Heilsversprechen der Piraten hieß: „Klarmachen zum Ändern“. Entstanden war die Partei, weil Menschen um ein freies Internet kämpfen wollten. Die Anziehungskraft lag dann aber darin, dass die Partei einen Anspruch formulierte, hinter dem sich Protestwähler und Weltverbesserer versammeln konnten: Demokratie künftig anders zu organisieren als die etablierten Parteien. 30 Jahre zuvor bei den Grünen war eine ähnliche, basisdemokratische Motivation auch Teil des Erfolges.

Ein Zauberwort der Piraten hieß: Transparenz. Schluss sollte sein mit „Geheimverträgen“ und „Hinterzimmerpolitik“. Angstfrei und ausgestattet mit der Arroganz der Anfänger starteten sie ihr Politikexperiment in Echtzeit. An Politik gingen sie heran wie Computernerds an Fehler im System: man versucht es so lange, bis es klappt. Die Folgen waren fürchterlich.

Zustand der Dauerüberforderung

„Letztlich“, sagt Julia Schramm, „befanden wir uns in einem Zustand der Dauerüberforderung.“ Eigentlich müssen Einsteiger lernen, wie Parlamentsarbeit funktioniert. „In anderen Parteien haben die Neuen jemanden, der sie coacht.“ Schramm war Mitglied des Bundesvorstands, sie galt als eines der Gesichter der Partei – und sie ist eines der Beispiele für jemanden, der sehr hart am eigenen Leib erfahren hat, was ein „Shitstorm“ bei den Piraten bedeutet. Die Partei wurde von allen Seiten beobachtet. Das Internet funktionierte da wie ein Big-Brother-Container, in den jeder hineinschauen konnte, und beobachten, wie sich die Partei immer mal wieder gründlich zerlegte. Das System ermöglichte zwar tiefgründige Debatten zu Einzelthemen wie Außen- oder Finanzpolitik. Aber wahrgenommen wurden der Streit und das Mobbing auf sozialen Plattformen – über die Verteilung von Ämtern, über den Umgangston, über Rechtsausleger in der Partei und über Sexismus. Der Ton war heftig. Das ist heute Alltag, war damals aber neu und wurde als piratische Eigenschaft interpretiert. Die ganze Republik ergötzte sich an Beleidigungen und Skandalen. Jemand hatte den Stammtisch, den jeder Ortsverein hat, ins Scheinwerferlicht gezerrt. Julia Schramm glaubte damals noch, das Experiment könne gut ausgehen: „Es wird sich eine neue Kulturtechnik der Debatte entwickeln“, meinte sie. Irgendwann kapitulierte sie, erlitt eine Phase der absoluten Erschöpfung, trat aus der Partei aus. Inzwischen hat sie ein Buch über die Kanzlerin geschrieben, promoviert und arbeitet für eine politische Stiftung in Berlin.

Skandale und Intrigen – Eine Partei zerlegt sich

Kein Leben ohne Politik

Auch Bernd Schlömer, einst Bundesvorsitzender, der versuchte, die Partei auf ihrem Niedergang noch zu einer erfolgreichen Bundestagswahl zu führen, gab entnervt auf und brauchte einige Zeit, um sich zu erholen. „Wir sind auch an der Unfähigkeit gescheitert, uns zu professionalisieren“, sagt der Beamte im Verteidigungsministerium. „Aber vor allem war es die Vorstellung, man könnte auch gesellschaftliche Probleme quasi technisch lösen, wenn man nur das richtige Tool hätte.“

Die Ex-Piraten Lauer, Schlömer, Schramm und Delius eint immer noch eins: ohne Politik können sie sich ihr Leben nicht vorstellen. „Ich kann nicht anders“, sagt Martin Delius. „Es war im übrigen auch die beste Zeit meines Lebens.“ Wie genau Politik für ihn in Zukunft aussehen wird, weiß er nicht – so wie Julia Schramm. Beide stehen der Linken nahe. Bernd Schlömer kandidiert jetzt für die FDP in Friedrichshain-Kreuzberg. „Bisher ist der Bezirk für die Partei Feindesland“, sagt er. Das soll jetzt anders werden. Mit Graswurzelarbeit kennt sich Schlömer ja aus.

Wenn man Christopher Lauer nach den Erfolgen seiner einstigen Partei fragt, dann sagt er: „Den Piraten ist es als erstes gelungen, das Thema Netzpolitik auf die politische Agenda aller Parteien zu setzen.“ Lauer war einige Zeit in Lohn und Brot beim Springer-Verlag. Er sollte da digitale Strategien finden. „Springer hat mich repolitisiert“, sagt er. „Die Politik ist der Ort in dieser Gesellschaft, in der man etwas gestalten kann“. Lauer macht Innenpolitik, und selbst seine Gegner müssen einräumen, dass er sie ziemlich vor sich hergetrieben hat. Seine Erfolge hat er in einem Büchlein zusammengefasst. Darin steht zum Beispiel etwas über die Ambulanz für Gewaltopfer, die es seit kurzem in Berlin gibt. Es waren die Piraten, die das Projekt auf die Agenda setzten. 380 Menschen wurde hier bisher geholfen. Lauer macht sich keine Illusionen darüber, wie viele Menschen sein Büchlein lesen werden. „Die Bürger interessieren sich nicht für Politik. Aber ihr Leben verändert die Politik auch ohne dass sie sich dafür interessieren.“