Vo 25 Jahren: Jan Ullrich gewinnt die Tour de France. Foto: Imago/Reporters

Vor 25 Jahren gewann Jan Ullrich die Tour de France – ein Götterliebling des Radsports. Der Journalist Sebastian Moll hat ein Buch über den Ex-Radstar geschrieben. Er hat den Triumph und den beispiellosen Abstieg des einstigen Idols hautnah miterlebt.

Es ist der 15. Juli 1997: Ein junger deutscher Radrennfahrer namens Jan Ullrich stürmt auf der zehnten Etappe der Tour de France zum Tagessieg und ins Gelbe Trikot. Zwei Wochen später gewinnt er als erster und bislang einziger Deutscher die Frankreich-Rundfahrt. Nach seinem Ritt über die Pyrenäen steigt der immer ein wenig tapsig wirkende Deutsche zur Sportikone auf – und zertrümmerte danach diese Heldenstatus mit Affären und Delikten in beispielloser Manier.

 

Ullrichs Skandalchronik: eine Frau gewürgt

Kurz vor dem fünfundzwanzigsten Jubiläum seines Tour-de-France-Sieges ergeben die Nachrichten von Jan Ullrich ein eher diffuses Bild. Noch im vergangenen Herbst radelte er scheinbar gesund und glücklich an der Seite seines einstigen Rivalen Lance Armstrong durch Mallorca. Zuvor hatte er im Jahr 2018 einen katastrophalen Rückschlag erlitten. Die Polizei nahm ihn in Frankfurt fest. Der Vorwurf: Er habe unter Alkohol- und Drogeneinfluss eine Escortdame gewürgt, bis sie fast ohnmächtig wurde. Nach seiner Freilassung aus dem Polizeigewahrsam wurde er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Kurz vor Weihnachten 2021 lag Ullrich während eines Urlaubs in Mexiko erneut in einer Klinik. Lance Armstrong erzählt, er habe ihn dort nach einem erneuten Drogenexzess in einem erschütternden Zustand abgeholt. Mittlerweile, so Armstrong, sei Ullrich jedoch wieder in „stabilem“ Zustand.

Eine Existenz zwischen Absturz und Nothalt

Danach schien es aufwärtszugehen. Doch jüngst zerstritt sich Ullrich mit der Gemeinde Merdingen, wo er seit seiner Krise vor vier Jahren wieder in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung lebt. In der Nähe seiner Kinder, seiner ersten Frau Gaby und alten Begleitern wie dem Nationalmannschaftskollegen Dirk Baldinger und dessen Bruder Mike hat er Halt gefunden. Doch nun lehnte die Gemeinde die Mitfinanzierung des von ihm geplanten „Bike Zentrums Jan Ullrich“ ab. Zudem berichteten Boulevardzeitungen, Ullrich habe sich von seiner neuen Lebensgefährtin, die er noch vor 2018 auf Mallorca kennengelernt hatte, wieder getrennt.

Sind das nur Stolpersteine auf dem Weg in eine ruhigere Existenz? Der französische Philosoph Roland Barthes hat in seinem berühmten Aufsatz zur Tour de France aus dem Jahr 1957 geschrieben, das große Drama der Tour und ihre Faszination beruhten darauf, dass die Protagonisten Heldenfiguren sind, die um Siege und einen Funken göttlichen Glanzes ringen. Ullrichs Ritt nach Andorra hatte alles, um ihn in eine mythische Gestalt zu verwandeln. Sie hatte eine betörende Unschuld, eine Reinheit, die ein kalkulierter Sieg eines erfahrenen Favoriten nie hätte haben können. Ullrich war der junge Prinz der Tour, von den Göttern überreich mit Talent gesegnet, dem die Regentschaft über das größte Radrennen der Welt in den Schoß gefallen war.

Ullrichs Doping hat man ihm nie verziehen

Es wäre an Ullrich gewesen, in den folgenden Jahren diese Rolle auf- und auszubauen. Doch er wuchs nie hinein in die Rolle des Regenten. Seine Karriere blieb ein Versprechen. Er wurde der Unvollendete, derjenige, der niemals seiner Begabung gerecht wurde. Er war nicht der Asket, der er hätte sein müssen, um im Juli wirklich heldenhaft aufzutreten. Er mutierte im Oktober und November zu einem Durchschnittsbürger, der zu bequem war, jeden Tag sechs Stunden zu trainieren und lieber auf dem Sofa saß und naschte. Er ging in Discos, trank, nahm Drogen und flirtete mit Frauen, die nicht seine Lebensgefährtinnen waren. Er setzte sich nach durchzechten Nächten ans Steuer seines Sportwagens und gab den pubertierenden Macho.

Schließlich wurde Jan Ullrich im Jahr 2006 beim Doping erwischt. Doping ist für Barthes ein Sakrileg, es kommt der Imitation der Götter gleich. Durch Doping wird der Sport banal. Ullrich entzauberte nicht nur seinen eigenen Überflug in den Jahren 1997 und zu verschiedenen Gelegenheiten danach. Er entzauberte gemeinsam mit vielen seiner Generationsgenossen die Tour und den gesamten Radsport.

Italiener und Franzosen tun sich mit den Skandalen leichter

Spätestens nach der Tour 2007, als ein Dopingskandal nach dem anderen in die Tour de France platzte, ist im Radsport der Generalverdacht angebracht. So sehr sich auch die nachfolgenden Generationen bemühen, die Glaubwürdigkeit ist dahin. Das ist natürlich nicht alleine der Generation Ullrichs anzulasten. Doch für die Rennveranstalter und Teambesitzer und die Sponsoren ist das ein Problem. Denn der epische Charakter der Tour, ihre Funktionsweise als Alltagsmythos, ist die Corporate Identity des Radsports. Und schuld daran, die Ware verdorben zu haben, ist am Ende immer der Athlet.

Jan Ullrich hat diese Schuldzuweisung besonders hart getroffen. Seine Tragik liegt dabei unter anderem darin, dass er Deutscher ist. Wie der Philosoph Peter Sloterdijk in einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte: „Die Italiener und die Spanier sind Angehörige einer Kultur, in der die Abspaltung des Scheins vom Sein zur populären Metaphysik gehört. Die Deutschen, speziell die protestantischen, wollen dagegen die Wörter und die Dinge wieder zur Deckung bringen. Wir sind, glaube ich, die einzige Nation auf der Welt, wo man an ehrliche Neuanfänge glaubt. Wir bleiben unberechenbar, 1945 wurden wir demokratisch, 2007 dopingfrei.“ Will heißen: Italienische und spanische und wohl auch französische Radsportfans können mit ein wenig Verlogenheit ganz gut leben.

Jan Ullrich wollte nie ein Held sein

Hierzulande ist der Genuss am Radsport mit einem nagenden schlechten Gewissen verbunden. Und die Schuld dafür gibt man insgeheim vor allem Jan Ullrich und dem Team Telekom. Er hat nie zum Heldendarsteller getaugt. Deshalb hat er, ohne es zu beabsichtigen, dem ganzen Produkt die Maske heruntergerissen. Und das wird man ihm für immer übel nehmen. Dabei hat er den Radsport geliebt. Als er jung war, bedeutete das Radfahren Freiheit und die Unabhängigkeit von einem schwierigen Zuhause. Und es vermittelte Anerkennung, Selbstwertgefühl und die Geborgenheit in einer Gemeinschaft. Doch Ullrich besaß auch den Fluch eines außergewöhnlichen Talents. Das weckte Begehrlichkeiten: von Trainern und einem staatlichen Sportapparat, später von Verbänden, Vereinen und einem cleveren Manager. Mit all dem kam er noch zurecht, er konnte es von sich fernhalten und einfach nur Rad fahren. Aber was nach seinem großen Durchbruch auf ihn einstürzte, überforderte ihn kolossal.

Sind die menschlichen Kosten des Leistungssports zu hoch?

Der Sportstar Jan Ullrich verstrickte sich im komplizierten Geflecht von Ruhm und Reichtum und einem Idol-Status, der ihm nie behagte. Am Ende musste er die Erfahrung machen, dass sich im professionellen Radsport damals zwar vieles um ihn drehte, aber dass es nie wirklich um ihn selbst ging. Seine Ausbrüche aus dem Leistungs- und Heldenkorsett waren nicht nur kleine Rebellionen, sondern auch Hilferufe. So war der Zusammenbruch von monumentalem Ausmaß, den Ullrich im Sommer 2018 durchlitt, beinahe zwangsläufig und für jedermann sichtbar.

Was blieb, war im besten Fall Betroffenheit und im schlechtesten Fall eine lustvolle Beschau der privaten Katastrophe. Was jedoch noch immer nicht wirklich eingesetzt hat, ist eine Diskussion darüber, ob die menschlichen Kosten für die Produktion geliebter Alltagsmythen wie der Tour, die uns temporär aus der Banalität unserer Lebenswelten befreien, zu rechtfertigen sind.

Jan Ullrich macht diese Frage dringlich.